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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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auf den schwarzen, vom Gitter rutschenden Körper zeigend:
    »Der erste Tschekist …«
    Doch in Andrejews Stimme war keine Schadenfreude.
    1964

Der Weismannianer
    Auf der Erde vor der Schwelle des Ambulatoriums waren frische Spuren von Bärenkrallen. Der Verschluss, der raffinierte Schraubverschluss, mit dem die Tür verschlossen war, lag in den Büschen, herausgerissen mitsamt den Klammern, gleich »mit dem Fleisch« …
    Im Innern des Häuschens waren Fläschchen, Flaschen und Gläser von den Fächern auf den Boden gefegt und zu Glasbrei gemacht. Der drückende Geruch von Baldriantropfen hing noch im Häuschen.
    Die Hefte aus dem Feldscherlehrgang, den Andrejew absolviert hatte, waren in Fetzen gerissen. Einige Stunden lang sammelte Andrejew mühsam, Blatt für Blatt, seine kostbaren Aufzeichnungen auf – denn Lehrbücher hatte es im Feldscherlehrgang nicht gegeben. Für den Kampf gegen die Krankheiten war der Feldscher Andrejew tief in der Tajga nur mit diesen Heften gerüstet. Eins der Hefte hatte mehr gelitten als die anderen. Das Heft über Anatomie. Sein erstes Blatt, auf dem von Andrejews ungeschickter Hand, die das Zeichnen niemals gelernt hatte, ein Schema der Zellteilung, die Elemente des Zellkerns, die geheimnisvollen Chromosomen dargestellt waren. Doch die Bärenkrallen hatten diese Zeichnung, dieses Heft im Zellophanumschlag so wütend zerrissen, dass er das Heft in den Ofen, in den Eisenofen werfen musste. Der Verlust war unersetzlich. Das war der Vortragszyklus von Professor Umanskij.
    Der Feldscherlehrgang fand am Häftlingskrankenhaus statt, und Umanskij war pathologischer Anatom, Prosektor, Leiter des Leichenhauses. Der pathologische Anatom ist die oberste Kontrolle, sozusagen von jenseits des Grabes, der Arbeit der behandelnden Ärzte. Bei der »Sektion«, der Öffnung, der Obduktion der Leichen urteilt man über die Korrektheit der Diagnose, die Korrektheit der Behandlung.
    Doch ein Leichenhaus für Häftlinge ist ein besonderes Leichenhaus. Man sollte glauben, dass es die große Demokratin Tod nicht interessiert, wer auf dem Seziertisch des Leichenhauses liegt, dass sie mit den Leichen nicht in unterschiedlichen Sprachen spricht.
    Einen kranken Häftling zu behandeln, und auch noch als Arzt, der selbst Häflting ist, ist nicht leicht, wenn dieser Arzt kein Schurke ist.
    Im Kranken- wie im Leichenhaus für Häftlinge hält man sich an dieselbe Form, wie sie in jedem Krankenhaus der Welt zu wahren ist. Doch die Maßstäbe sind verschoben, und der wahre Inhalt der Krankengeschichte eines Häftlings ist ein anderer als in der Krankengeschichte eines Freien.
    Hier geht es nicht nur darum, dass der Vertreter des Todes – der Pathologe, selbst ein noch lebendiger Mensch mit lebendigen Leidenschaften, Kränkungen, Vorzügen und Fehlern und seiner eigenen Erfahrung ist. Hier geht es um Größeres, denn die offizielle Trockenheit des »Sektions«protokolls gibt so wenig Rechenschaft über das Leben wie über den Tod.
    Wenn ein Kranker mit der Diagnose Krebs gestorben war und bei der Obduktion keine bösartige Geschwulst festgestellt wurde, sondern nur eine extreme, verschleppte Auszehrung, war Umanskij empört und verübelte es den Ärzten, die den Häftling nicht vor dem Hunger hatten bewahren können. Doch wenn er sah, dass der Arzt verstand was los war und, weil er nicht das Recht hatte, die wahre Diagnose »alimentäre Distrophie« – Hunger – zu stellen, nach Synonymen suchte – Hunger als Avitaminose, Poliavitaminose, Skorbut III, Pellagra, ihre Zahl ist Legion –, dann half Umanskij dem Arzt mit seinem festen Urteil. Und noch mehr. Wenn ein Arzt sich auf die durchaus respektable Diagnose einer grippösen Lungenentzündung oder Herzinsuffizienz beschränken wollte, lenkte der pädagogische Zeigefinger des pathologischen Anatomen die Aufmerksamkeit der Ärzte wieder auf die lagerbedingten Besonderheiten jeder Erkrankung.
    Auch Umanskijs ärztliches Gewissen war gebunden, gefesselt. Die erste Diagnose einer »alimentären Distrophie« wurde nach dem Krieg gestellt, nach der Leningrader Blokkade, als der Hunger auch in den Lagern bei seinem gebührenden Namen genannt wurde.
    Der Pathologe sollte Richter sein, aber Umanskij war Komplize … Eben darum war er Richter, weil er Komplize sein konnte. Wie sehr ihn Instruktion, Tradition, Order und Erläuterungen auch banden, Umanskij betrachtete die Dinge tiefer, weiter, prinzipieller. Seine Pflicht sah er nicht darin, die Ärzte bei Kleinigkeiten,

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