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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Hand hielt ich eine Erklärung an den Lagerchef über sämtliche Zustände in der unbegleiteten Außenstelle. Kosytschew las die Erklärung und schickte mich in den Isolator. Dort schlief ich, bis man mich zum Untersuchungsführer rief, aber man »hängte mir«, wie ich auch angenommen hatte, kein »Verfahren an« – meine Haftstrafe war lang. »Du fährst in die Strafmine«, sagte der Untersuchungsführer. Und ein paar Tage später schickte man mich dorthin – im zentralen Durchgangslager hielt man die Leute nicht lange.
    1959

Der grüne Staatsanwalt
    Die Maßstäbe sind verschoben, und jeder menschliche Begriff beinhaltet, auch wenn er Schreibweise, Klang und das gewohnte Sortiment an Buchstaben und Lauten beibehält, in sich etwas anderes, das auf dem Festland keinen Namen hat: die Maßstäbe sind hier andere, die Gewohnheiten und Bräuche besondere; der Sinn jedes Worts hat sich geändert.
    In Situationen, wenn sich ein neues Ereignis oder Gefühl, ein neuer Begriff mit gewöhnlichen menschlichen Worten nicht ausdrücken lässt, entsteht ein neues Wort, entlehnt aus der Sprache der Ganoven – die den Ton angeben bei den Moden und Neigungen des Hohen Nordens.
    Die Sinnmetamorphosen betreffen nicht nur solche Begriffe wie Liebe, Familie, Ehre, Arbeit, Tugend, Laster, Verbrechen, sondern auch Worte, die dieser Welt besonders eigen, in ihr entstanden sind, zum Beispiel »FLUCHT« …
    In meiner frühen Jugend hatte ich Gelegenheit, von der Flucht Kropotkins aus der Peter und Pauls-Festung zu lesen. Ein Gespann vor dem Gefängnistor, in der Droschke eine verkleidete Dame mit einem Revolver in der Hand, genau berechnete Schritte bis zur Tür der Schildwache, die Flucht des Arrestanten unter den Schüssen der Wächter, das Klappern der Hufe des Trabers auf dem Kopfsteinpflaster – die Flucht war klassisch, ohne jeden Zweifel.
    Später las ich die Erinnerungen von Verbannten über die Flucht aus Jakutien, aus Werchojansk, und war bitter enttäuscht. Keinerlei Verkleidung, keinerlei Verfolgung. Ein winterlicher Ritt, auf »langgespannten« Pferden wie in der »Hauptmannstochter« , Ankunft bei der Eisenbahnstation, Kauf einer Fahrkarte an der Kasse … Mir war unverständlich, warum sich das Flucht nannte. Fluchten dieser Art wurden einmal als »unerlaubte Entfernung vom Wohnort« bezeichnet, und nach meiner Ansicht gibt eine solche Formel das Wesen der Sache besser wieder als das romantische Wort »Flucht«.
    Selbst die Flucht des Sozialrevolutionärs Sensinow aus der Prowidenija-Bucht, bei der eine amerikanische Yacht an das Boot heranfuhr, von dem aus Sensinow fischte, und den Flüchtling an Bord nahm, sieht nicht aus wie eine richtige Flucht – so eine, wie von Kropotkin.
    An der Kolyma waren die Fluchten immer sehr zahlreich und immer erfolglos.
    Der Grund dafür liegt in den Besonderheiten der harten Polarregion, in der die zaristische Regierung niemals, wie auf Sachalin, Häftlinge anzusiedeln versuchte, um diese Gegend zu beleben und zu kolonisieren.
    Die Entfernungen zum Festland betrugen Tausende Werst, die schmalste Stelle, das Tajga-Vakuum – der Abstand von den bewohnten Bergwerksorten des Dalstroj bis nach Aldan – waren etwa tausend Kilometer tiefste Tajga.
    In Richtung Amerika waren die Entfernungen zwar wesentlich kürzer, die Beringstraße ist an ihrer schmalsten Stelle bloß etwas über hundert Kilometer breit, aber dafür war die Wache auf dieser Seite, ergänzt von den Grenztruppen, absolut undurchdringlich.
    Der erste Weg aber führte bis Jakutsk, und von dort entweder zu Pferd oder zu Wasser weiter – Fluglinien gab es damals noch nicht, und ein Flugzeug unter Verschluss zu halten ist auch mehr als leicht.
    Selbstverständlich gab es im Winter keine Fluchten – den Winter unter irgendeinem Dach zu verbringen, wo es einen Eisenofen gibt, ist der leidenschaftliche Wunsch jedes Häftlings und auch nicht nur des Häftlings.
    Die Gefangenschaft wird unerträglich im Frühjahr – so ist es immer und überall. Hier kommt zu diesem natürlichen meteorologischen Faktor, der extrem gebieterisch auf die menschlichen Gefühle wirkt, noch die Beurteilung durch die kühle Verstandeslogik hinzu. Eine Reise durch die Tajga ist nur im Sommer möglich, wenn man, falls die Lebensmittel ausgehen, Gras, Pilze, Beeren und Pflanzenwurzeln essen, aus zu Mehl zerstoßenem
jagel
– Rentiermoos – Fladen backen und Feldmäuse, Streifenhörnchen, Eichhörnchen, Tannenhäher und Hasen fangen kann …
    Wie kalt die

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