Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
märchenhafter Energie und Scharfsinn realisierte, keineswegs ein politischer Häftling und keineswegs ein Ganove, ein Spezialist für solche Dinge, sondern wegen Betrugs zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Das ist verständlich. Die Flucht eines Politischen berührt sich immer mit den Stimmungen in der Außenwelt und bezieht, wie der Hungerstreik im Gefängnis, seine Kraft aus der Verbindung zur freien Welt. Man muss wissen, im Voraus sehr genau wissen, wozu und wohin man flieht. Welcher Politische des Jahres 1937 hätte auf diese Frage antworten können? Leute, die zufällig in die Politik verwickelt sind, fliehen nicht aus dem Gefängnis. Sie hätten zu ihrer Familie, zu Bekannten flüchten können, aber im Jahr achtunddreißig bedeutete das, jeden der Gefahr der Repression auszusetzen, den ein solcher Flüchtling auf der Straße anschaut.
Hier kommt man nicht mit fünfzehn und nicht mit zwanzig Jahren davon. Das Leben der Nächsten und der Bekannten zu gefährden – das ist das einzig mögliche Ergebnis der Flucht eines solchen Politischen. Denn jemand muss ja den Flüchtenden decken, verstecken, ihm helfen. Unter den Politischen des Jahres 1938 gab es solche Leute nicht.
Bei den seltenen, die nach Ende ihrer Haftzeit zurückkamen, prüften die eigenen Ehefrauen als erste die Richtigkeit und Rechtmäßigkeit der Papiere des aus dem Lager zurückgekehrten Mannes und rannten mit den verantwortungsbewussten Wohnungsmietern um die Wette zur Miliz, um die Obrigkeit von seiner Ankunft zu unterrichten.
Mit zufälligen, unschuldigen Leuten wurde sehr einfach abgerechnet. Anstatt sie zurechtzuweisen, zu verwarnen, wurden sie gefoltert, und nach den Folterungen gab man ihnen zehn, zwanzig Jahre »ferne Lager« – entweder
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oder Gefängnis. Es blieb ihnen nur zu sterben. Und sie starben, ohne an irgendeine Flucht zu denken, sie starben und bewiesen wieder einmal die Nationaleigenschaft der Geduld, die schon von Tjuttschew gerühmt und später von Politikern aller Ebenen ungeniert herausgestrichen wurde.
Die Ganoven flohen darum nicht, weil sie nicht an den Erfolg der Flucht glaubten, nicht glaubten, dass sie auf dem Festland ankämen. Wobei Leute aus dem Fahndungs- und Lagerapparat, vielerfahrene Mitarbeiter, die Ganoven mit einer Art sechstem Sinn erkennen und versichern, dass die Ganoven ein Kainsmal tragen, das sich nicht verbergen lässt. Der klarste »Kommentar« zu diesem sechsten Sinn war ein Fall, wo man einen bewaffneten Räuber und Mörder mehr als einen Monat lang auf den Straßen der Kolyma suchte – mit dem Befehl, ihn bei Identifizierung zu erschießen.
Der Fahnder Sewastjanow stellte einen unbekannten Mann im langen Schafpelz in der Nähe der Zapfsäule einer Straßentankstelle, und als der Mann sich umdrehte, schoss ihm Sewastjanow direkt in die Stirn. Und obwohl Sewastjanow den Räuber noch nie gesehen hatte, obwohl Winter war und der Flüchtige Winterkleidung trug, obwohl die dem Fahnder genannten Kennzeichen die aller allgemeinsten waren (man kann nicht sofort die Tätowierungen aller Personen betrachten, die einem begegnen, und das Photo des Banditen war schlecht, undeutlich), hatte sein Gespür Sewastjanow dennoch nicht getrogen.
Unter dem Mantelschoß des Getöteten fiel ein Gewehrstutzen heraus, in den Taschen fand man einen Browning.
An Beweisstücken gab es mehr als genug.
Wie soll man einen so energischen Schluss bewerten, den einem der sechste Sinn eingab? Noch einen Moment – und Sewastjanow wäre selbst erschossen worden.
Und wenn er einen Unschuldigen erschossen hätte?
Für Fluchten aufs Festland fanden sich bei den Ganoven weder die Kräfte noch der Wunsch. Nach Abwägen allen »Fürs« und »Widers« beschloss die Verbrecherwelt, nichts zu riskieren und sich darauf zu beschränken, ihr Schicksal an den neuen Orten einzurichten – was natürlich vernünftig war. Von hier zu fliehen erschien den Kriminellen als allzu kühnes Abenteuer, als unnötiges Risiko.
Wer also wird fliehen? Ein Bauer? Ein Pope? Man weiß von nur einem einzigen flüchtigen Popen, und auch diese Flucht fand noch vor dem berühmten Treffen des Patriarchen Sergij mit Bullitt statt, als dem ersten amerikanischen Botschafter Listen mit allen orthodoxen Geistlichen überreicht wurden, die auf dem gesamten Territorium der Sowjetunion in Haft und Verbannung waren. Der Patriarch Sergij hatte während seiner Zeit als Metropolit selbst die Zellen des Butyrka-Gefängnisses kennengelernt. Nach Roosevelts Demarche
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