Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
wurden alle Geistlichen ohne Ausnahme aus Haft und Verbannung befreit. Das Konkordat mit der Kirche zeichnete sich ab, das extrem notwendig war angesichts des herannahenden Krieges.
Ein für ein Alltagsverbrechen Verurteilter – ein Schänder von Minderjährigen, Veruntreuer von Staatseigentum, ein Bestechlicher, ein Mörder? Aber für sie alle war es sinnlos, zu fliehen. Ihre Haftdauer, der »Termin«, wie Dostojewskij sich ausdrückte, war gewöhnlich nicht lang, in der Haft hatten sie allerlei Vorrechte, sie arbeiteten in der Lagerversorgung, in der Lagerverwaltung und überhaupt auf allen »privilegierten« Posten. Sie erhielten gute Anrechnungen, und vor allem – nach ihrer Rückkehr nach Hause, ins Dorf oder in die Stadt, fanden sie die freundlichste Aufnahme. Nicht weil diese Freundlichkeit eine Eigenschaft des russischen Volkes wäre, das die »armen Unglücklichen« bemitleidet – das Mitleid für die »Unglücklichen« gehört längst in den Bereich der Überlieferung, ist zu einem netten literarischen Märchen geworden. Die Zeiten hatten sich geändert. Die große Diszipliniertheit der Gesellschaft hat den »einfachen Menschen« angehalten zu erkunden, wie die Obrigkeit zu diesem Gegenstand steht. Die Einstellung war die wohlwollendste, denn dieses Kontingent machte der Leitung absolut keine Sorgen. Zu hassen hatte man nur die »Trotzkisten«, die »Volksfeinde«.
Es gab noch einen zweiten, ebenfalls wichtigen Grund für die Gleichgültigkeit des Volkes gegenüber den Rückkehrern aus dem Gefängnis. Im Gefängnis waren so viele gewesen, dass es im Land wohl kaum auch nur eine Familie gab, deren Verwandte oder Bekannte nicht Verfolgungen und Repressionen ausgesetzt waren. Nach den Schädlingen waren die Kulaken an die Reihe gekommen; nach den Kulaken – die »Trotzkisten«, nach den »Trotzkisten« – Menschen mit deutschen Namen. Und der Kreuzzug gegen die Juden wäre als nächstes verkündet worden.
All das versetzte die Menschen in größte Teilnahmslosigkeit, zog im Volk vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber Leuten heran, denen das Strafgesetz in irgendeinem seiner Teile seinen Stempel aufgedrückt hatte.
Wenn in früheren Zeiten ein Mensch, der im Gefängnis war und in sein Heimatdorf zurückkam, mal Besorgnis, mal Feindlichkeit, mal Verachtung, mal Mitgefühl weckte – offenes oder heimliches –, so schenkte diesen Leuten heute niemand Beachtung. Die moralische Isolation der »Gebrandmarkten«, der
katorga
-Häftlinge gehörte längst der Vergangenheit an.
Menschen aus dem Gefängnis wurden – sofern ihre Rückkehr von der Obrigkeit erlaubt war – auf das Herzlichste begrüßt. Jedenfalls konnte jeder »Tschubarowez« , der sein minderjähriges Opfer geschändet und mit Syphilis angesteckt hat, nach Verbüßung seiner Haftstrafe auf volle »geistige« Freiheit in derselben Umgebung rechnen, in der er das Strafgesetz übertreten hat.
Die belletristische Interpretation juristischer Kategorien hatte hieran nicht den unwesentlichsten Anteil. Schriftsteller und Dramatiker traten aus irgendeinem Grund als Rechtstheoretiker auf. Die Gefängnis- und Lagerpraxis blieb dabei ein Buch mit sieben Siegeln; aus den Berichten auf dem Dienstweg wurden keinerlei ernsthafte, grundsätzliche Schlüsse gezogen …
Warum also sollten die
bytowiki
aus den Lagern fliehen? Sie flohen tatsächlich nicht und vertrauten sich völlig der Sorge der Leitung an.
Umso erstaunlicher ist die Flucht von Pawel Michajlowitsch Kriwoschej .
Gedrungen, mit kurzen Beinen und einem dicken roten Hals, der in den Hinterkopf überging, trug Pawel Michajlowitsch seinen Namen nicht ohne Grund.
Als Chemieingenieur eines Charkower Werks sprach er perfekt mehrere Fremdsprachen, las viel, kannte sich in der Malerei, der Bildhauerei gut aus und hatte eine große Sammlung von Antiquitäten.
Als prominente Figur unter den Spezialisten der Ukraine, verachtete der parteilose Ingenieur Kriwoschej alle Arten von Politikern bis ins Innerste. Ein kluger Kopf und Schlaumeier, war er von Jugend auf in der Leidenschaft nicht für den Erwerb erzogen – das wäre zu grob, zu abgeschmackt gewesen für Kriwoschej, sondern in der Leidenschaft für den Lebensgenuss – so, wie er ihn verstand. Und das bedeutete Entspannung, Laster, Kunst … Geistige Vergnügen waren nicht nach seinem Geschmack. Seine Kultiviertheit und sein hoher Wissensstand eröffneten ihm neben dem materiellen Wohlstand gute Aussichten auf Befriedigung auch seiner
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