Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
gegraben war. Der Vorarbeiter setzte sich ans Licht.
»Was wird das?«, fragte ich meinen Nachbarn.
»Die Prozente für den heutigen Tag«, sagte der Nachbar, und in seinem Ton fing ich etwas auf, das mich erschreckte – einen solchenTon hatte ich unter äußerst schwierigen Umständen gehört, als man den Opfern des Jahres achtunddreißig die Arbeit in der Goldgrube jeden Tag in einer »Einzelschicht« vermaß. Ich konnte mich nicht irren. Hier war etwas, das auch ich noch nicht kannte, etwas gefährliches Neues.
Der Vorarbeiter las, ohne jemanden anzuschauen, mit gleichmäßiger langweiliger Stimme die Namen und die Prozente der Normerfüllung durch jeden der Arbeiter vor, faltete akkurat seinen Zettel und ging. Die Baracke schwieg. Nur das schwere Atmen einiger Dutzend Leute in der Dunkelheit war zu hören.
»Wer weniger als hundert hat«, erklärte der nun etwas fröhlichere Nachbar, »der bekommt morgen kein Brot.«
»Gar keins?«
»Gar keins!«
So etwas war mir wirklich noch niemals und nirgends begegnet. In den Bergwerken wurde die Ration nach dem Dekaden-Ausstoß der Brigade berechnet. Im schlimmsten Fall bekam man die Strafration – dreihundert Gramm, und das Brot wurde nicht völlig gestrichen.
Ich dachte angestrengt nach. Das Brot ist unsere Hauptnahrung hier. Die Hälfte aller Kalorien bekommen wir mit dem Brot. Das warme Essen dagegen ist etwas Ungewisses, sein Nährwert hängt von tausend verschiedenen Ursachen ab – von der Ehrlichkeit des Kochs, von seiner Sattheit, vom Fleiß des Kochs, denn einem faulen Koch helfen »Arbeiter«, die der Koch mit Essen versorgt; von der energischen und wachsamen Kontrolle; von der Ehrlichkeit der Leitung; von der Ehrlichkeit des Vorarbeiters und der Sattheit und Anständigkeit der Begleitposten, von der Ab- oder Anwesenheit von Ganoven. Schließlich noch ein vollkommen zufälliges Faktum – die Kelle des Verteilers, die nur Brühe schöpft, kann die Nährwerte des warmen Essens beinahe auf Null senken.
Die Prozentsätze griff der rührige Vorarbeiter natürlich aus der Luft. Und ich gab mir das Wort: wenn mich der Entzug des Brotes trifft, als Methode der Anstachelung der Produktion – werde ich nicht warten.
Eine Woche verging, während der ich begriff, warum die Lebensmittel unter dem Bett des Vorarbeiters aufbewahrt werden. Den Schal hatte er nicht vergessen.
»Hör, Andrejew, verkauf mir den Schal.«
»Das ist ein Geschenk, Bürger Natschalnik.«
»Mach keine Witze.«
Aber ich weigerte mich kategorisch. Am selben Abend war ich auf der Liste jener, die die Norm nicht erfüllt hatten. Zu beweisen versuchte ich nichts. Am Morgen wickelte ich meinen Schal ab und trug ihn zu unserem Schuster.
»Du musst ihn nur abdampfen.«
»Das wissen wir – wir sind nicht mehr klein«, antwortete fröhlich der Schuster, der sich über seine unerwartete Erwerbung freute.
Der Schuster gab mir dafür eine Fünfhunderter Brotration. Ich brach ein Stück davon ab und verbarg den Rest im Hemd. Ich trank mich an kochendem Wasser satt und ging mit allen zur Arbeit los, aber blieb zurück, blieb zurück, und dann bog ich von der Straße ab in den Wald und lief, in einem großen Bogen um unsere kleine Siedlung, denselben Weg entlang, auf dem ich vor einem Monat hierher gekommen war. Ich ging einen halben Werst vom Pfad entfernt, der frisch gefallene Schnee störte mich nicht beim Laufen, Spürhunde hatte der schwarzbärtige Vorarbeiter nicht, und erst später erfuhr ich, dass er auf Schiern bis an das Häuschen des Fährmanns gekommen war – denn der Bergfluss fror hier nicht lange zu – und das Lager durch einen vorbeikommenden Begleitposten von meiner Flucht unterrichtet hatte.
Ich setzte mich in den Schnee und schnürte die
burki
unterhalb des Knies mit Lappen zusammen. Diese Sorte Schuhe wurde nur
burki
genannt. Das war ein lokales Modell – die sparsame Produktion der Kriegszeit.
Burki
wurden zu Hunderttausenden aus alten, abgetragenen Wattestepphosen genäht. Die Sohle bestand aus demselben Material, wurde mehrmals abgesteppt und mit Schnürsenkeln versehen. Zu den
burki
gab es Flanell-Fußlappen – solche Schuhe gab man den Arbeitern, die bei fünfzig, sechzig Grad Frost Gold suchten. Diese
burki
zerrissen bei der Arbeit im Wald nach wenigen Stunden, sie blieben an Ästen, an Zweigen hängen; bei der Arbeit im Goldbergwerk nach wenigen Tagen. Löcher in den
burki
wurden in nächtlichen Schusterwerkstätten nachlässig geflickt. Zum Morgen war die Reparatur
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