Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Sommernächte im Norden, im Land des Dauerfrostbodens auch sind, ein erfahrener Mensch wird sich doch nicht erkälten, wenn er auf irgendeinem Stein übernachtet. Er wird sich rechtzeitig auf die andere Seite drehen, wird nicht auf dem Rücken schlafen, legt sich Gras oder Zweige unter …
Von der Kolyma kann man nicht fliehen. Der Platz für die Lager war genial gewählt. Und dennoch – die Macht der Illusion, einer Illusion, die mit schweren Karzertagen, einer zusätzlichen Haftzeit, Schlägen, Hunger und oftmals auch mit dem Leben bezahlt wird, die Macht der Illusion ist auch hier groß, wie immer und überall.
Fluchten kommen sehr oft vor. Sobald sich die Fingerspitzen der Lärche mit Smaragd bedecken – brechen die Flüchtlinge auf.
Fast immer sind es Neulinge im ersten Jahr, in deren Herzen der Wille und der Ehrgeiz noch lebendig ist und deren Verstand sich noch nicht auskennt in den Verhältnissen des Hohen Nordens – die den bislang bekannten der Festlandwelt ganz und gar nicht gleichen. Die Neulinge sind von dem, was sie sehen, bis in die tiefste Seele gekränkt, von den Schlägen, den Misshandlungen, der Verhöhnung, der Zerstörung des Menschen … Die Neulinge fliehen, manche besser, manche schlechter, aber das Ende ist bei allen dasselbe. Die einen fängt man nach zwei Tagen, die anderen nach einer Woche, die dritten nach zwei Wochen … Länger dauern die Wanderschaften der Flüchtigen mit einer »Richtung« (das Wort wird später erklärt) nicht.
Der gewaltige Stab von Lager-Begleitposten und der Operativgruppe mit Tausenden deutscher Schäferhunde plus die Grenztruppen und jene Armee, die an der Kolyma stationiert ist und sich unter dem Namen »Kolyma-Regiment« verbirgt – reicht aus, um hundert von hundert der möglichen Flüchtigen einzufangen.
Wie aber kommt es zu einer Flucht, und ist es nicht einfacher, die Kräfte der Operativgruppe für die unmittelbare Bewachung einzusetzen, für die Bewachung und nicht das Einfangen der Leute?
Ökonomische Berechnungen zeigen, dass der Unterhalt von »Kopfjägern« das Land dennoch billiger kommt, als die durchgängige Bewachung vom Gefängnistyp. Die Flucht selbst zu verhindern ist außerordentlich schwierig. Hier hilft auch nicht das gigantische Netz von Informanten unter den Häftlingen selbst, die die Leitung mit Machorka-Papirossy und einem Süppchen bezahlt.
Hier geht es um die menschliche Psychologie, ihre Windungen und Winkelzüge, und da lässt sich nicht voraussehen, wer sich wann und warum zur Flucht entschließt. Das, was geschieht, unterscheidet sich außerordentlich von sämtlichen Mutmaßungen.
Natürlich, es gibt hier »prophylaktische« Maßnahmen: die Inhaftierung, die Versetzung in eine Strafzone – dieses Gefängnis im Gefängnis –, die Verlegung Verdächtiger an einen anderen Ort; sehr viele »Maßnahmen« wurden entwikkelt, die wahrscheinlich ihren Einfluss auf die Verringerung der Fluchten haben, vielleicht gäbe es noch mehr Fluchten, wenn nicht die gut und zahlreich bewachten Strafzonen tief in der Abgeschiedenheit wären.
Doch aus den Strafzonen fliehen sie auch, und in unbegleiteten Außenstellen macht niemand den Versuch, zu entweichen. Alles kommt im Lager vor. Außerdem ist die feine Beobachtung Stendhals in »Die Kartause von Parma« wahr und richtig: »der Gefängniswärter denkt weniger an seine Schlüssel als der Gefangene an sein Gitter.«
Kolyma, ach, Kolyma
Wunderlicher Kosmos
Winter neun Monat’ im Jahr
Alles andre Sommer.
Darum bereitet man sich auf den Frühling vor – die Wache und die Fahndergruppe vergrößern ihren Bestand an Leuten und Hunden, drillen die einen, instruieren die anderen; auch die Häftlinge bereiten sich vor – sie verstecken Konserven und Zwieback, suchen sich »Partner« …
Es gibt einen einzigen Fall einer klassischen Flucht von der Kolyma, sorgfältig durchdacht und vorbereitet, talentiert und ohne Hast ausgeführt. Das ist eben jene Ausnahme, die die Regel bestätigt. Aber auch bei dieser Flucht kam alles ans Licht der Sonne, gab es ein unbedeutendes, auf den ersten Blick nichtiges Versäumnis, das den Flüchtigen zu finden erlaubte – nach nicht mehr und nicht weniger als zwei Jahren. Offensichtlich war das Ehrgefühl der Vidocqs und Lecoqs stark angegriffen, und der Sache wurden viel mehr Aufmerksamkeit, Kräfte und Mittel gewidmet, als man das in gewöhnlichen Fällen tat.
Interessanterweise war der Mensch, der »auf die Flucht gegangen« war und diese mit
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