Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
erledigt. Schicht um Schicht wurde auf die Sohle genäht, der Schuh nahm endgültig ein formloses Aussehen an und ähnelte dem Ufer eines Bergflusses nach einem Erdrutsch.
In diesen
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und mit einem Stock in der Hand ging ich zum Fluss – ein paar Kilometer oberhalb der Furt. Ich rutschte den felsigen Steilhang herab, und das Eis krachte unter meinen Füßen. Ein langgezogenes ausgewaschenes Eisloch versperrte mir den Weg – und das Ende dieser Eisrinne war nicht in Sicht. Das Eis brach ein, und ich tat leicht den Schritt in das dampfende perlgraue Wasser, und meine Wattesohle spürte die gewölbten Steine auf dem Grund. Ich hob den Fuß hoch – die vereisten
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funkelten, und ich ging noch tiefer ins Wasser, bis übers Knie, und setzte, mit dem Stock nachhelfend, auf die andere Seite über. Dort schlug ich die
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sorgfältig mit dem Stock ab und kratzte das Eis von
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und Hosen – die Füße waren trocken. Ich berührte das Stückchen Brot unter dem Hemd und nahm den Weg am Ufer entlang. Nach etwa zwei Stunden erreichte ich die Chaussee. Es war angenehm, ohne den verlausten Schal zu laufen – Kehle und Hals erholten sich sozusagen, mit einem alten Handtuch bedeckt, dem »Ersatz«, den mir der Schuster für meinen Schal gegeben hatte.
Ich lief unbeschwert. Sehr wichtig ist es bei großen Märschen, im Winter wie im Sommer, dass die Hände frei sind. Die Hände sind an der Bewegung beteiligt und werden im Gehen warm, genauso wie die Füße. Nur darf man nichts in den Händen tragen – selbst ein Bleistift erscheint nach zwanzig, dreißig Kilometern als unglaubliche Last. All das wusste ich schon lange und genau. Ich wusste auch etwas anderes: wenn ein Mensch eine Last in einer Hand ein paar Schritt weit tragen kann, dann kann er diese Last ohne Ende tragen oder ziehen – es kommt ein zweiter, dritter, zehnter Atem. Ich, der »
dochodjaga
«, komme überall an . Auf einem ebenen Weg. Im Winter geht es sich sogar leichter als im Sommer, wenn der Frost nicht zu stark ist. Ich dachte an nichts, und im Frost darf man auch an nichts denken – der Frost nimmt dir die Gedanken und verwandelt dich schnell und leicht in ein Tier. Ich ging ohne Vorsatz, mit dem einzigen Wunsch, aus dieser verdammten unbegleiteten Außenstelle wegzukommen. Etwa dreißig Kilometer vom Lager wohnten Holzfäller in einer Hütte an der Chaussee, und dort wollte ich mich aufwärmen und mit etwas Glück auch übernachten.
Es war schon dunkel, als ich dieser Hütte erreichte, die Tür öffnete und durch den Frostnebel hindurch in die Baracke eintrat. Hinter dem russischen Ofen hervor erhob sich zu meiner Begrüßung ein Mann, der mir bekannte Holzfällerbrigadier Stepan Shdanow, ein Häftling natürlich.
»Zieh dich aus, setz dich.«
Ich zog mich sofort aus, nahm die
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ab und hängte die Kleidung am Ofen auf.
Stepan öffnete die Ofenklappe, zog Handschuhe an und holte von dort einen Topf heraus.
»Setz dich und iss!«
Ich legte mich auf dem Boden schlafen, aber schlief spät ein – Füße und Hände schmerzten.
Wohin ich gehe, woher ich komme, fragte Stepan nicht. Ich war ihm dankbar für sein Feingefühl – auf ewig. Ich habe ihn niemals wieder gesehen. Aber noch heute erinnere ich mich an die heiße Hirsesuppe, den Duft der angebrannten Grütze, der an Schokolade erinnert, den Geschmack der langen Tabakpfeife, die mir Stepan, nachdem er sie mit dem Ärmel abgewischt hatte, zum Abschied hinstreckte, damit ich einen Zug tun konnte auf den Weg.
An einem trüben Winterabend kam ich beim Lager an und setzte mich nicht weit vom Tor in den Schnee.
Jetzt gehe ich hinein – und alles ist zu Ende. Zu Ende sind diese wunderbaren zwei Tage Freiheit nach vielen Jahren Gefängnis – und wieder Läuse, wieder eisiger Stein, weißer Dampf, Hunger, Schläge. Da ist durch die Wache ein Schauspieler aus der Kulturbrigade ins Lager gegangen – ein unbegleiteter Einzelner. Ich kenne ihn. Hier sind Arbeiter aus der Holzfabrik gekommen – sie treten auf der Stelle, um nicht zu frieren, ihr Begleitposten ist in die Wache gelaufen, in die Wärme, und hat es nicht eilig. Hier ist der Lagerchef Leutnant Kosytschew gekommen, hat eine »Kasbek«-Kippe in den Schnee geworfen, und sofort stürzen sich die Holzfäller, die um die Wache herumstehen, darauf. Es ist Zeit. Die ganze Nacht wirst du hier nicht sitzen. Du musst dir Mühe geben, alles Beabsichtigte zu Ende zu führen. Ich stieß die Tür auf und trat in die Bude der Wache. In der
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