Kürzere Tage
hier hinten. Traumhaft, mitten in der Stadt! Und eine Sandkiste habt ihr auch!«
Judith mustert Leonies Gesicht, die geschminkten Lippen, das helle Make-up und die zarten rosa Flecken am Hals. Sie merkt, daß ihre Nachbarin sich nicht so locker fühlt, wie sie tut. Im Gegensatz zu ihren Kindern ist es für sie nicht selbstverständlich, hier hereinzuplatzen. Ich habe sie mit Absicht nicht eingeladen, und nun sind sie doch gekommen. Judith atmet tief durch. Sie haßt Überraschungen. Mattis und Hanna sind immer noch nicht da. Sie schaut unauffällig auf ihre Armbanduhr. Das wird heute auch nichts mehr. Zwischen Sandkiste und Hütte hat sich ein reges Treiben entwickelt. Uli und Leonies Ältere haben das Kommando übernommen und schicken die beiden Jüngeren abwechselnd als Kellner und Gäste herum. Hagebutten, Sandkuchen und Steine werden serviert. Uli wickelt mit Hilfe von Gräsern Maultaschen aus Efeublättern zusammen, füllt Matsch hinein, Lisa versucht, es ihm nachzumachen. Mit Stolz sieht Judith, wie liebevoll Kilian auf die jüngere Felicia eingeht. »Wir haben eigentlich Besuch erwartet, das Nachbarskind«, Judith nennt mit Absicht keine Namen, »aber anscheinend sind sie verhindert. Möchtest du einen Tee?« Das Öffnen der Kanne, der Griff in den Weidenkorb zu ihren Füßen, der Aufbau von Tassen, Löffeln, Papierservietten, der Blechdose mit Gerstenmalzwürfeln gibt ihr das Gefühl von Sicherheit zurück, zumal sie Leonies Bewunderung dafür spürt,hier draußen die Utensilien für ein Teekränzchen hervorzaubern zu können.
In der Sandkiste sind Felicia und Kilian aneinandergeraten. Beide heulen laut. Judith kann nicht erkennen, worum es geht. Leonie steht sofort auf. »Feli, was ist los?« Sie übersetzt das Geheule ihrer Tochter. Kilian steht bockig daneben. »Du willst nicht der Gast sein? Was willst du dann sein? Die Köchin? Und Kilian?« Er brummelt vor sich hin. »Auch der Koch?« Leonie geht vor den beiden in die Hocke, sie kümmert sich nicht um ihre Stiefel oder den Mantel. »Wißt ihr was? Ich bin der Gast, ich habe furchtbar Hunger. Und ihr kocht mir was. Was gibt es denn bei euch zu essen?« Kilian lacht schon wieder. »Maultäschle und Spätzle und Ofenschlupfer!« Felicia piepst hinterher: »Und Puddi!« Sie läßt die Hand ihrer Mutter nicht los. Die beiden älteren Kinder kommen dazu. »Ich will auch mit dir was kochen!« ruft Uli. »Ich auch!« schiebt Lisa hinterher. Leonie greift nach dem Eimer, den Uli ihr hinhält. Sie füllt Förmchen und benutzt den großen Holzlöffel. Ihre Nase glänzt, sie lacht. Uli redet eifrig auf sie ein, zeigt ihr die Sandelsachen. Daß eine Erwachsene an ihren Spielen teilnimmt, in eine Rolle schlüpft, Anweisungen befolgt, ist für Judiths Kinder neu. Es gefällt ihnen, sie lachen und reden wie aufgezogen. Dabei haben ihre Gesichter einen skeptischen Ausdruck, als erwarteten sie, daß diese Situation jederzeit umschlagen könnte in etwas Unberechenbares, der Besuch sich verwandeln könnte in ein zwielichtiges Wesen. Judith bastelt zu Hause mit den Jungen. Sie pressen Blätter, flechten und weben. Sie läßt sich auch von ihnen bei der Hausarbeit helfen, wenn sie Lust dazu haben, aber sie spielt nicht mit ihnen. Die Kinderwelt, in der ein paar Kissen und Stökke die Traumlandschaft eines ganzen Tages stellen können, ist heilig. Sie darf nicht durch die Vorgaben der Erwachsenen gestört werden. Und auch im Waldorfkindergarten stehen die Erzieherinnen nur als Modell zur Nachahmung bereit, arbeitend wie eineMutter des 19. Jahrhunderts in Haus und Garten, mit Getreidemühle, Rührschüssel, Waschbrett. Wenn die Kinder wollen, können sie sich beteiligen.
»Hmm, wie lecker! Ihr habt gut gekocht. Ich will noch mehr!« ruft Leonie und klopft sich auf den Bauch. Die Kinder schleppen sandgefüllte Gefäße herbei, sie reißen Laub und Blüten ab und legen alles vor Leonie nieder. Judith muß an Eingeborene denken, die ihr Götzenbild bedienen. Trotzdem gefällt ihr, wie Leonie mit ausgestreckten Beinen auf der Sandkasteneinfassung sitzt, wie sie die Augen schließt und genießerisch schnuppert, als Uli ihr dikke Matschkugeln auf einem Efeublatt dicht unter die Nase hält. Gleichzeitig weiß sie, daß der ungewollte Besuch der Nachbarin Störungen bringen wird. Lisa und Felicia haben abwaschbare Glitzer-Tätowierungen auf den Handrücken, Kaugummis in den Backentaschen. Ab und zu ziehen sie lange rote Gummiwürmer aus ihren Steppjacken und teilen sie mit den
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