Kürzere Tage
Jungen. Die schmatzen begeistert, der Geruch von Erdbeeraroma breitet sich aus. Kilian zupft an Leonies Bettelarmband: Ernie, Bert, Krümelmonster und Grobi klimpern silbrig-bunt um das sommersprossige Handgelenk. Judith besaß in der Hackstraße eine Hello-Kitty-Umhängetasche. »Wer sind denn die?« Unterstützt von ihren Mädchen, erzählt Leonie von der Sesamstraße. Sie staunen, als Uli ausruft: »Wir haben keinen Fernseher!« Heute abend wird es wieder Fragen geben, zwischen zwei Brotbissen, vom Klositz aus gerufen und unter der Bettdecke hervorgeflüstert. Fragen, die zu beantworten Kraft kostet, die Unsicherheit und Verwirrung stiften, vielleicht auch Zweifel wecken, darüber, daß Judith ihre Kinder von vielen Dingen so lange wie möglich fernhalten will. Judith kippt den kalt gewordenen Früchtetee hinunter. Er schmeckt sauer und läßt Speichel strömen. Am liebsten würde sie ausspucken. Sie ärgert sich über Hanna. Warum kommt die blöde Kuh nicht pünktlich? Dann hätte sie Leonie elegant abwimmeln können.»Schau, wir haben Besuch, vielleicht ein andermal.« Und die Rothaarige sitzt da und läßt sich begaffen, merkt nichts. Uli berührt vorsichtig ihre schimmernde Strumpfhose: »Warum bist du so schön?« Sie bringt alles durcheinander, fragt nicht einmal, ob Kilian und Uli Süßigkeiten essen dürfen.
Judith steht auf und geht zur Sandkiste. »Uli, Kilian, nehmt mal die Äpfel und die Gutsle. Ihr könnt mit Lisa und Felicia im Kinderhäusle essen.« Die Aussicht auf Kekse beendet das Spiel. Uli trägt stolz und vorsichtig die Blechdose, Lisa geht neben ihm, ihre Schwester und Kilian kommen langsam hinterher, jede Hand um einen gelben Apfel geschlossen. Aus der Hütte hört man Klappern und Ulis energische Stimme mit Anweisungen für Sitzordnung und Kekszuteilung. »Gebacken hast du auch noch? Ich kann das gar nicht. Manchmal kaufe ich diese Fertigmischungen für Muffins. Die dürfen sie dann verzieren, mit Smarties und Liebesperlen.« Leonie lacht, sie reibt ihre erdigen Finger mit einem parfümierten Erfrischungstuch wieder sauber. »Bei uns gehört es schon dazu, daß man darauf achtet, was man zu sich nimmt«, sagt Judith leise. Sie versucht eine Grenze zu ziehen. Es wäre leichter, wieder allein zu sein, Sonne auf dem Gesicht, eingemauert, nur sie und die Kinder, Klaus vielleicht, wenn er dann kommt, die Aktentasche unter dem Arm, leuchtende Augen, Freude, die sich in den Gesichtern der Jungen widerspiegelt und auch auf Judith zurückscheint.
Inzwischen hat Leonie etwas gemerkt, sie dreht ihr schmutziges Tüchlein zu einer Wurst und stopft es in die Manteltasche, tritt zwei Schritte zurück, den Körper in Richtung Hütte neigend und lauschend: »Wie schön die da drinnen spielen, ganz friedlich.«
Judith nickt nur und stellt das Teegeschirr in den Korb zurück. Leonie nimmt die leere Thermoskanne, geht zum Wasserhahn an der Hauswand. Wie hat sie denn den so schnell entdeckt? Sie istpatent, spült die Kanne aus, reicht sie Judith. Eine Frau, mit der man sofort losziehen könnte, Lippenstifte ausprobieren, Schuhe kaufen, vielleicht sogar ein zweites Bettelarmband für Judith. Schon in der Hackstraße waren nicht Männer, sondern Frauen Mangelware. Judith findet die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen schwierig und anstrengend. Als Konkurrentinnen waren sie nervig, als Mütter, Angehörige dieser unterprivilegierten und idealistischen Kaste, sind sie nur in kleinen Dosen erträglich. Klaus hat einen großen Freundeskreis: Uni-Kollegen, Leute von der Band, sogar alte Schulfreunde hat er sich erhalten. Judith kocht gerne für diese Runde, aber wenn Fühler ausgestreckt werden, Angebote kommen – »Wir könnten doch nächstes Wochenende zusammen am Bärenschlößle grillen . . .« –, zieht sie sich zurück.
Leonie hat sich abgewandt, ihre hängenden Schultern drücken Ratlosigkeit aus. Beim nächsten Pieps aus der Hütte wird sie ihre Mädchen zu sich pfeifen und gehen. Es tut Judith leid. Sie möchte keine Zicke sein. Und die Kinder haben ja wirklich nett zusammen gespielt. Oben im Eßzimmer wird ein Fenster geöffnet. Sie berührt Leonies Arm. »Schau mal, der Klaus ist nach Hause gekommen. Vielleicht kocht er uns einen Kaffee.« Das Gesicht der anderen Frau erhellt sich, schnell ist das Lächeln wieder da, breit und ausgelassen. Sören hätte sie nicht gefallen, die schmale Sportlerfigur, das rote Haar, zu kleine Titten, dazu ein energisches Kinn. Sicher hätte sie nicht jahrelang die
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