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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Hackstraßengeliebte gegeben, Tabletten gefressen und die Beine auf Abruf breit gemacht. Sie ist normal. Hinter dieser glatten Stirn gibt es keinen Tavor-Nebel. Das working girl mit ihrer Tasche und den eleganten Büro-Klamotten trägt einen nicht unwesentlichen Teil zum Haushaltsbudget bei. Bestimmt beschäftigt sie eine Putzfrau. Sie kann in den Spiegel schauen, ohne daß ihr eine Verliererin entgegenglotzt. Das ganze Studium, die Schinderei beiBaumeister- Canetti, alles nur, um Dinkelklößchen zu rollen und Hosenflikken aufzunähen? Sie ahnt nichts von der verdorbenen Brühe, die in deiner Hirnschale schwappt. Gib ihr ein koffeinhaltiges Heißgetränk und laß sie in Frieden ziehen. Sie wird nichts von dir erfahren, was sie erschrecken könnte, und du kannst auf deinem Weg weitergehen. Leider ist es kein Privatweg, mit großen Verbotsschildern. Es fehlt der Mut zum scharfen Schnitt, wie ihn die Amish-People wagen: weiße Hauben und Pferdefuhrwerke, Brotteig kneten und Wasser am Brunnen holen, Heirat nur untereinander und das eigene Stück Land mit der Schrotflinte verteidigen.
    Judith ruft nach oben: »Klaus!« Die Jungen stürmen aus dem Häuschen und stellen sich neben ihr auf, aus voller Kehle »Papa« brüllend. Wie die beiden Mädchen gucken – ein Vater, der bei Tageslicht nach Hause kommt. Das kann sie Leonie vorführen. Da oben, der Kerl, ein Kerl wie ein Pfund Wurst, breitschultrig, hellhaarig, inzwischen Professor, der jetzt aus dem Fenster schaut wie der Kuckuck aus der Uhr, das ist mein Mann. Mein Mann, der mich ernährt, obwohl ich krank und verrückt bin und gut im Bett und eine Supermama. Das erste weiß er nicht und das zweite, das gefällt ihm natürlich. Nachts regelmäßig blasen und lutschen, oben liegen, rumstöhnen und morgens vegetarische Paste auf die Stullen schmieren – da schaut dir keiner ins Tablettenschränkchen. Biotin für Haare und Nägel, damit du noch schöner wirst.
    Klaus lacht und winkt, die Jungen hüpfen vor Begeisterung: »Komm runter Papa, komm!« Dein Mann kommt spät, nicht wahr? Er gehört nicht zum Alltag, er arbeitet, genau wie du, um deine italienischen Stiefel zu bezahlen, die beiden Autos und die fremden Leute, die jeden Tag auf eure Kinder aufpassen. Aber meiner, der ist hier, gleich bringt er mir einen Kaffee mit aufgeschäumter Milch, denn er liebt mich, von Herzen, mit Schmerzen, über die Maßen, kann’s gar nicht lassen. Und wenn ich jetzt die Augen ein bißchen zusammenkneife, in diesem bläulichzerlaufenden Dämmerlicht, kann ich mir einbilden, es sei Sören, der hier herunterwinkt, auf seine Söhne, blond und schön, die er mit mir gezeugt hat. Sören würde nicht lachen und winken, er würde aus dem Fenster runterkotzen, auf diese ganze Idylle: Garten, Kinder, Hausfrau mit Teetasse, das unanständige Schafsglück der Bürgerlichen, die sich blöde lächelnd aneinander reiben und vermehren. Ihr Horizont ist nicht höher als der Rand einer Müslischale, blind für die Verwerfungen der Welt. Kindersoldaten reißen in Namibia Frauen die Gedärme raus, während du dir Sorgen machst, ob dein Kind vielleicht Hammerzehen hat. Und die Chinesen bauen Geländewagen und feinmechanische Instrumente für ein Zehntel des hiesigen Preises, während Meeresspiegel und Gesundheitskosten steigen.
    Judith formt die Hand zum Becher und führt stumme Trinkbewegungen durch. Klaus grinst und ruft: »Kommt sofort!« Judith lächelt Leonie an. Sie erzählt von Klaus’ Arbeit an der Uni. »Die Uni hier ist gut, da kommen viele Studenten von außerhalb, das ist oft ganz spannend. Heimwehkranke Rheinländer und Araber, denen die Schwaben auf die Nerven gehen. Klaus lädt sie dann zu uns ein, und sie kriegen Kässpätzle, Maultaschen und Trollinger, damit sie sehen, daß nicht alle hier bruddelig und mufflig sind.« Leonie lacht und zieht den Tweedmantel enger um sich. »Und du? Bist du auch Professorin?« Judith schüttelt den Kopf. Sie hat darauf gewartet, daß der geschminkte Karrieremund diese Frage stellt. Du bist nichts, Hausfrau und Mutter. Niemand spricht für dich, nur bayerische Trachtenträger und minderbemittelte Nachrichtensprecherinnen brechen eine krumme Lanze und machen alles noch schlimmer. Ihre Antwort kommt prompt. Sie hat sie schon hundertmal gegeben. Die Worte purzeln aus ihrem Mund wie ein Goldstück aus dem Hintern des Esels Streckdich. Leonie soll sie gierig aufsammeln und behalten. Es gibt nichts hinzuzufügen. Erst Karriere, dann Kinder, wie es sich

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