Kürzere Tage
Sturm. Klaus’ Stimme klingt unwillig aus der Gegensprechanlage: »Jungs, laßt den Quatsch, es nervt!« Dann springt die grüne Tür auf.
Marco
Marco öffnet die Wohnungstür und riecht sofort, daß er nicht da ist. Sein Atem wird ruhiger, und sein Puls wechselt aus dem Maschinengewehrtakt in einen gemäßigteren Schlag. Das süßliche Zeugs, das er sich literweise draufknallt, hängt zwar noch in der Luft, hat die Wohnung völlig durchseucht, aber der Geruch ist nicht frisch, nicht vermischt mit der Körperwärme dieses ständig schwitzenden, von Gebäudereinigung und Muckibude aufgeheizten Kadavers. Er hat immer heiße Hände. Nicht warme, sondern heiße, als ob er innerlich kocht. Wenn er zuschlägt, fühlt es sich an, als wenn einem zwei Schnitzel, frisch aus der Pfanne, um die Ohren klatschen.
Marco steht in der offenen Tür und schaut. Den Schlüssel hält er mit der Spitze nach vorn in der Hand wie eine winzige Pistole. Am Schlüsselbrett fehlen ihre Schlüssel. Alle beide, Anitas blöde Diddl-Maus und sein beschissener Tigerzahn mit dem ganzen Geklingel dran: Wohnungen und Büros ohne Ende. Nix davon gehört ihm, er macht dort nur den Dreck weg. Je mehr Schlüssel, desto mehr Verantwortung, da kann man gleich erkennen, wer’s zu was gebracht hat. Aber eine alte Karre fahren und im Hochhaus am Olgaeck zu dritt auf 35 Quadratmetern wohnen. Erst gestern nacht war Marco mal wieder an Pornostars Brieftasche. Fatzeleer. Es war nichts zu holen, wie schon so oft. Der kauft sich Latschen mit Luftpolster und Knöchelstütze, atmungsaktive Trainingsjacken, Protein-Shakes, die Dose zu acht Euro. Wenn Marco was braucht, hat es keinen Sinn, sich an Pornostar zu halten.
Marco hängt seinen Schlüssel nicht auf. Er trägt ihn um den Hals, an einem Band mit Totenköpfen drauf, weiß auf schwarz. Hat ihm Anita mal geschenkt. Er wird das Band auch mitnehmen, wenn er weggeht, zur Erinnerung. Nicht an die neue Anita,die dünne, deren Haut vom Solarium so braun und knittrig geworden ist wie das Papier, das Oma Bine im Ofen unter die Tiefkühlpizza gelegt hat, sondern die andere, die verschwunden ist. Die dünne Anita ist blond, so blond, daß ihr Haar fast weiß aussieht. Sie sprayt und föhnt es vom Kopf weg, flauschig wie eine Pusteblume. Die dünne Anita sieht toll aus, keine Frage. Das ist deine Mutter? Hammer! Sie ist nur an den richtigen Stellen dick, nicht überall, so wie früher. »Gut, wenn die Frau überall ein bißchen rund ist, das gefällt uns, nicht wahr, karu ?« hatte Eino gesagt und die dicke Anita gedrückt. Die verzog zuerst das Gesicht, aber Eino hatte ihr Marco in die Arme geschoben. Dann drückte sie ihn an sich und lachte kurz auf. Die dicke Anita. Schwabbel-Anita.
»Wie fett ich geworden bin, das werd ich nie wieder los. Scheiß Babyspeck.« Aber sie hatte dann doch Softeis gekauft, das kringelig aus der Waffel wuchs wie eine fettige Haarlocke, eins für sich und eins für Marco. Er war mit der Zungenspitze in der kalten Masse die staubige Königstraße hochgelatscht, immer einen Schritt hinter Anita, damit er nicht an ihre knisternden Tüten stieß: C & A, H & M. Die dicke Anita trug gern enge bunte Fummel und mochte Flecken darauf überhaupt nicht. Sie kreischte mindestens dreihundert Mal am Tag – »Marco, du Spast!« »Marco, du machst mich krank!« »Wenn du nicht wärst, da hätt ich das schönste Leben!« Wenn er ins Bett machte, drehte sie aus dem nassen Laken eine harte Wurst, mit der sie ihn durchwalkte. Aber sie rieb auch ihre Nase, klein und knubbelig, an seiner, daß es kitzelte wie verrückt. Sie schenkte ihm Brezeln, Aufkleber, eine Wasserpistole und las ihm, wenn sie sehr gute Laune hatte, aus einem alten Mickymaus-Taschenbuch vor. Und sie hatte in der Samstagsschlange bei Lidl, klein, blond, mit Straßstein im Schwabbelnabel, Eino angelockt. Eino, den Esten, der eigentlich bloß einen Kasten vesi kaufen und zu seiner Baustelle zurückschlappenwollte, schweigend Leitungen legen und Drähte zusammenlöten.
Nein, Marco hängt seinen Schlüssel nicht ans Brett, zu Porno und der dünnen Anita. Er wischt sich die feuchten Handinnenflächen an der Hose ab. Es ärgert ihn, daß es jedesmal wieder losgeht. Kaum ist er im Treppenhaus, fängt es an, er kann nichts dagegen tun. Es ist genau wie bei diesem Hund, von dem Bio-Laupp mal erzählt hat, der mit Sabbern loslegt, sobald eine Glocke klingelt. Er will nicht sein wie ein dummer Köter. Und erst recht nicht wie Mini-Marco, der
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