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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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neunjährige Pupsi, der manchmal vor Angst in die Hose schiß, im Dauerabo ins Bett pißte. Die kleine Heulsuse, zu doof zum Verrecken, kann nichts, weiß nichts, aber frech wie Rotz. Das kommt von dem Russen, der hat ihn falsch programmiert. Da ist alles verloren, den hätte man gleich nach der Geburt ersäufen sollen. Mini-Marco, Anitas Spast, Pornostars Russenratte, Oma Bines Fetz, Einos karu . Mini-Marco ist verschwunden. Der hat sich tatsächlich in Luft aufgelöst, wie es gewünscht wurde.
    Statt dessen Marco, bald 13 Jahre alt. Nicht mehr ein Meter zwanzig, sondern ein Meter siebenundsechzig. Für den gibt es keine Klamottenkontrolle mehr und keine Schultaschenkontrolle und keine Pißfleckenkontrolle im Klo. Er hat ein paar Haare bekommen, auf der Brust, an den Armen, auf den Eiern. Alles an ihm ist gewachsen. Noch nicht lange her, da hat Pornostar sein Pensum reduziert, als ob er roch, daß Marco kein Kurzer mehr war. Natürlich schlägt er noch zu, aber es ist nicht mehr wie früher. Vielleicht haut er nicht mehr so fest zu, vielleicht ist er schwächer geworden, älter, kleiner. Es tut nicht mehr richtig weh. Dadurch ist es jetzt ruhiger in Marcos Kopf. Sachen fallen ihm wieder ein, an die er ewig nicht gedacht hat. Zum Beispiel Einos Zettel, im Futter der Matratze, ganz hinten. Selbst wenn man sie umdreht, kann man nicht erkennen, daß hier ein Versteck ist.Marco hat die Naht ganz vorsichtig aufgetrennt, mit der Nagelschere. Er fummelt auch nicht dauernd dran rum, damit es nicht ausleiert und auffällt. Das hat er sich überlegt. Doof ist er nicht, auch den Schulkram schafft er irgendwie. Murat, Hassan und Ufuk dagegen, die kacken wirklich ab.
    Wahrscheinlich kommt der Grips von seinem Vater, dem Tobi. Dem Früchtle, wie ihn Oma Bine immer nennt. Außer Oma Bine spricht niemand mehr vom Tobi. Die dünne Anita redet sowieso kaum noch mit Marco. Aber die dicke Anita hat Mini-Marco gerne angezetert: »Über Väter reden wir net, wir schaffen’s auch allein.« Was die dicke Anita schaffte, das wußte er damals nicht so genau. Sie hing gern vor der Glotze, sah sich Shows und Serien an, mit Mini-Marco zusammen auch Trickfilme. Sie telefonierte mit ihren Freundinnen oder stritt sich mit Oma Bine. »Wie soll ich schaffen gehn, wenn ich den Marco an der Backe hab? Den nimmt mir keiner ab. Du bestimmt net, oder? Da stellt mich keiner ein.« Manchmal machte sie Frauen, die sie vom Spielplatz oder aus dem Block kannte, in der Küche die Haare oder die Fingernägel. Abends ging sie aus – »Bißle tanzen, daß ich weiß, daß ich noch leb« –, besprühte sich mit ihrem Duft, malte die Lippen glänzend und hängte sich riesige Ohrringe in die fleischigen Läppchen: Pfauenaugen, goldene Sonnen, silberne Vögel. Mini- Marco blieb allein auf seiner Matratze neben der Ausziehcouch und konnte nicht schlafen. Er wußte, daß sie immer wiederkam, ewig mit dem Schlüssel im Schloß herumstocherte, nach Rauch und Bier stank und am nächsten Tag schlechte Laune hatte. Sie brachte nie jemand mit. Eino hatte damals am Nachmittag bei ihnen geklingelt, den Wasserkasten noch vor dem Bauch, eine Familienpackung Eis am Stiel, knallgelbes Caretta, zwischen den Flaschen steckend. Das feuchte Einwickelpapier riß geräuschlos auf.
    Marcos leiblicher Vater, der Tobi, wird heute in Marbach nurder Elektro-Breining genannt. Außer von Oma Bine. »Daß ich nicht lache«, sagt sie, »das Früchtle! Ich sag immer noch Tobi, wenn ich den auf der Straße treff. Na Tobi, was macht die Familie? Dann wird er ganz rot und haut ab. Genau wie damals mit der Anita.« Denn Anita war schwanger vom Tobi. Mit 16, du lieber Schieber. Weil aber der Tobi mit seinen 17 Jahren immer noch ein Pfetschekindle war und auch keine Lust hatte, mit der Anita Mama-Papa-Kind zu spielen, war er nach ein bißle Geflenne vor dem Eiscafé in der Fußgängerzone abgedampft. Marco hat Tobi noch nie gesehen. Aber er glaubt, daß ein Typ, der sich mit Technik und so auskennt, nicht ganz dämlich sein kann. Und wenn Marco vielleicht sogar versetzt wird, obwohl er ständig andere Dinge im Kopf hat, dann muß das auf Tobis Konto gehen, denn Anita ist dumm. Sie hat Eino gehen lassen und Pornostar angeschleppt, also muß sie dumm sein. Totaler Durchzug da oben. Ein kleiner Käfer mit Leuchtbatterie im Arsch, der durch die Nacht torkelt und Viechzeug anlockt, egal welches. Porno ist hinterhergeflogen und hat sich festgebissen, ein dicker stinkender Mistkäfer mit

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