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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Zangengebiß.
    Zwölf minus neun ist drei. Das kann Marco locker im Kopf ausrechnen. Diese Aufgabe bedeutet, daß das Arschloch seit drei Jahren hier ist. Marco kichert. Dreijähriges Dienstjubiläum, herzlichen Glückwunsch. Marco zwingt sich, ruhig zu atmen. Es ist niemand in der Wohnung. Er ist beim Reinigungsservice und Anita auch. Porno hat ihr den Job besorgt. Da hat er sie den ganzen Tag unter der Fuchtel. Wenn sie nach Hause kommen, ist es schon dunkel. Sie werden denken, er ist hinter dem Vorhang, aus der Schußlinie. Dabei wird er längst weg sein, über alle Berge. Und jetzt hat er erst mal Zeit, massig Zeit, für sich ganz allein.
    Marco geht durch den schmalen Flur. Die Klotür steht noch offen, Toilettendeckel und -brille sind hochgeklappt wie ein Riesenmaul mit Wulstlippen. In der weißen Fresse schäumt blauerReiniger. Alles muß immer offenstehen, Durchzug, Stoßlüften. Die Klobrille war mal aus Holz, bevor Porno sie rausgerissen hat. Plastik ist hygienischer. Eino hatte das Holzding mitgebracht. Marco hat vergessen, wie das Holz hieß, er ist nicht gut in so was. Es hatte dunkle Kringel drin, wie Vogelaugen. »Ist doch klar, Anita, daß der Junge ins Bett macht, wenn es so kalt ist auf dem Klo. Das ist gutes Holz, haben wir auch viel in Eestimaa , das ist warm am Po, wird er gern draufsitzen, gell karu ?« Die dicke Anita hatte gejault damals, es sei Unsinn, schon wieder Geld auszugeben für den kleinen Pisser. Da sei ohnehin alles verloren, der hätte jede, aber auch jede Woche, seit sie denken könne, mindestens einmal unter sich gemacht. Bei ihr genauso wie bei Oma Bine, sie hätten alles versucht, es wäre ihm egal, er mache es wahrscheinlich mit Absicht. So wie er damals unbedingt auftauchen mußte, als sie ihn am wenigsten brauchen konnte. Ihr ganzes Leben sei von dem Tag an eine einzige Scheiße gewesen. Keine Nacht hätte er durchgeschlafen, dauernd war er krank, ein Ding nach dem anderen: Bronchitis, Lungenentzündung, Angina. Nichts habe er ausgelassen. Mit über 15 Monaten konnte er nicht mal laufen und gesprochen habe er keinen Pieps. Jetzt müsse Eino nicht auch noch so tun, als ob er alles besser wisse als sie. Aber Eino hatte nur den Kopf geschüttelt: Pea suu, kallis . Das sagte er immer, wenn die dicke Anita auf Mini-Marco schimpfte. Der durfte ihm die Schrauben reichen, während er die Holzbrille montierte, und Eino lobte ihn.
    Marco geht am Klo vorbei in die winzige Küche. Auch hier steht ein Fenster offen. Der Lärm vom Olgaeck röhrt hinein: Die Straßenbahnen, vier Linien, juckeln hier den Berg hoch oder in den Tunnel rein, auf der vierspurigen Hohenheimer Straße kreischen und hupen die Autos rauf und runter. Busse fahren über den breiten Verkehrsteller der Planie, halten vor dem fernen Aufbau der Schlösser ganz hinten. Sie sind ziemlich hoch oben. Mansieht den orangefarbenen Klotz mit dem Biergarten hinter dem riesigen Eisentor, die Türme, irgendwelche Kirchen, keine Ahnung. Marco schaut runter in den Hof. Paar Bänke um die Sandkiste voller Katzenscheiße, durchgerostete Klettertürme, Schaukel und Rutsche, übervolle Mülleimer an der Wand. Kein Mensch ist unten. Das Hochhaus hat 15 Stockwerke. Als er zwei war, ist er hierhergezogen, mit der dicken Anita, in die erste eigene Wohnung. Ein Zimmer, Küche, Bad, der schmale Flur und die fensterlose Abstellkammer hinter einem Vorhang. Aus der hatte Eino die Bretter rausgerissen und Platz gemacht für Marcos Matratze, die Mickymaus-Leuchte und den Bananenkarton mit seinem Kram. » Karu muß eine eigene Höhle haben, ein Versteck.« Eino holte Anitas Bettwäsche und blätterte mit seinen großen Händen durch den Stapel wie durch ein Babybilderbuch mit starken Pappseiten, rosageblümt, hellblau, Tigerfell, schwarz. Marco konnte sich nicht entscheiden, Eino wählte für ihn: »Nimm die blaue, das ist die beste Farbe, wirst schlafen wie im Himmel.«
    Marco reißt den Kühlschrank auf. Es ist nichts zu essen da. Nie gibt es hier was zu fressen. »Hier wird nicht gekocht, das macht nur Dreck. Der Kerl hat doch in der Schule gegessen, wofür zahlen wir denn jeden Monat?«
    Eino hatte abends oft was gekocht, meistens Kartoffeln. Und » Sööma !« gebrüllt, wenn es fertig war. Er stand total auf Kartoffeln, machte kartulipuder , Kartoffelbrei mit Speckstückchen, frikadellisupp aus Möhren, Kartoffeln und kleinen Fleischklößchen. Er schleppte seltsames Zeug an, das Anita kopfschüttelnd betrachtete und Mini-Marco neugierig

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