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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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die frische Luft zerrte. Es konnte immer passieren, daß was auf seine Sachen kam. Und dann hatte er »eingesaut«, wie Pornostar brüllte. Eine Plastiktüte gab es, da waren Hose und Shirt drin. Das Ganze hatte er so klein wie möglich gefaltet und im Jungensklo in der äußersten rechten Kabine hinter das Wasserrohr gestopft, das da die Wand langlief. Mini-Marco war voll beschäftigt nachzuschauen, ob die Sachen noch da waren, ob nicht vielleicht der Hausmeister oder ein Handwerker sie entdeckt hatten. Damit konnte ein Kurzer wie Mini-Marco schon viel Zeit verbringen, ganz zu schweigen von den Gedanken an die Schnitzelhände und das Staubsaugerrohr und die dünne Anita, die nicht mehr mit Oma Bine sprach und zu Marco nicht mal mehr »Spast« sagte, sondern überhaupt nichts mehr. Andere Gedanken, über sich selber, über Eino und Estland, hatten da wohl keinen Platz mehr. Dafür kommen sie jetzt massenweise, poltern durch seinen Schädel wie nasse Fetzen, die in der Waschmaschine im Kreis rumfliegen. Er weiß nicht, wo er zuerst hinschauen soll, und muß aufpassen, daß er nicht dusselig wird. Sonst schafft er es nie, hier wegzukommen. Zum Beispiel wie alles anfing, mit Porno, das kommt immer wieder. Er kann gar nichts dagegen tun, will nicht daran denken, und trotzdem rattert es los, und er muß hinschauen: Grundschüler Marco Knopp saß auf dem Sofa und glotzte fern. Es war eine Kinderserie, genau, Schwammkopf. Sponge Bob hatte aus Versehen Gerrys Schneckenmedizin genommen und wurde selbst zur Schnecke, fing an rumzuschleimen und Miau! Miau! zu rufen, so hoch und piepsig wie Gerry das immer tat, und dazu der Schleim, voll eklig, matsch-matsch. Das fand Mini-Marco übelst komisch. Er hatte halb auf der Couch gehangen und sich gekringelt. Er liebte Schwammkopf. Neben ihm lag eine Tüte Mäusespeck, weiß-rosa gestreift, mit Kokosspänen obendrauf, schon halb leer gefuttert. Die hatte Oma Bine neulich mitgebracht. Sponge Bob tropfte der Schleim von der langen Nase. Mini-Marco griff mit der Hand in die Tüte, tief in die weichen Bällchen. Er muß noch heute kotzen, wenn er das Zeug bloß riecht. Dann wurde die Mattscheibe plötzlich schwarz. Nur noch das rote Lämpchen unten an der Glotze leuchtete. Es war still, und er sah in der dunklen, glänzenden Oberfläche des großen Bildschirms sich selbst, sah das Blättermuster des Sofabezugs, braun, gelb, lila, darüber seine Jeansbeine und die nackten, schmutzigen Füße. Er war bei den ›Zaunkönigen‹ gewesen nach der Schule, die fetten Schafe füttern, mit Stavros und den anderen Abwerfen spielen. Auf seinem T-Shirt war ein großer Fleck, ungefähr in der Magengegend. Tomaten-Paprika-Soße, das war das Essen aus der Schulcafeteria. Mini-Marcos Haar war ganz hell von der Sonne, es wurde im Sommer immer so. Anita mußte färben. »Schau dir den an, der wird total blond, richtige Strähnchen kriegt er, es ist doch ungerecht.« Im schwarzen Glas des erloschenen Bildschirms sah Mini-Marco die schlappe Palme mit den Herzchen-Lichterketten und den Tisch mit vier Stühlen. Er sah das Regal, in dem ihre Teller und Gläser standen und Anitas Stofftiere obendrauf. Er sah die Wanduhr und den Stoffblumenkranz von Oma Bine, Anitas Sarah-Connor-Poster daneben. Er sah den braunen Türrahmen mit den Disney-Aufklebern, der auf den Flur hinausführte, zur Küche, zum Badklo und zu seiner Kammer hinter dem Vorhang.
    Im Türrahmen stand der Mann mit der Fernbedienung in der Hand. Der Mann hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er trug ein Muskelshirt, Shorts und Basketballstiefel. Er füllte den Türrahmen aus, stieß mit den Ellbogen links an Micky, rechts an Donald. Sein Haar war kurz geschnitten, es stand stachelig nach oben.
    »So, Sportsfreund, Feierabend.« Marco fand seine Stimme komisch. Er sprach ganz weit hinten im Hals, so belegt, als hätte erwas Fettiges gefressen. Und er redete so, als ob er nicht von hier wäre. Schon Deutsch, aber nicht Schwäbisch, das Anita, Oma Bine und die meisten Kinder in der Schule sprachen. Auch nicht wie Eino, der das R rollte und die Sätze verdrehte, wenn er müde war, estnische Wörter reinflickte. Wo kam der bloß her?
    Er kam langsam näher und schleuderte die Fernbedienung über den Couchtisch. Mini-Marco konnte das süßliche Deo des Mannes riechen und sah die großen Tätowierungen, die auf seinen Oberarmen wucherten wie schwarzer Ausschlag. Der Mann nahm die Mäusespecktüte in die Hand und drehte sie oben zusammen, als wollte er

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