Kürzere Tage
löste er das Fell von den Oberschenkeln und zog es dann wie einen zu kleinen Anzug vom Körper ab. »Das können wir nicht mit nach Hause nehmen. Deine Mutter wird es nicht mögen.« Aus herumliegenden Steinen bauten sie eine Grillstelle und sammelten trockenes Gras und Zweige. Sie brieten das Hasenfleisch an Stöcken und aßen es mit einer Mischung aus Pfefferund Salz, die Eino in einer kleinen Papiertüte in seiner Jacke stekken hatte. Braune winzige Vögel stiegen aus dem Gras in den hellen Himmel. Es roch nach Rauch und Heu. »Ein richtiger Jäger braucht nur ein gutes Messer und eine Schnur. Du mußt nicht schießen, du mußt denken wie der jänes . Ich habe seinen Dreck gefunden und die Falle gebaut. Er kommt nur, wenn er sich ganz sicher fühlt.« Fell, Kopf und die Eingeweide, ein blutiges Häufchen von ineinandergeschlungenen Schläuchen, vergruben sie sorgfältig. Der jänes , zäh und fasrig, reichte gerade für beide. Eino hatte auch Brot dabei, das sie in den Saft tunkten. Anschließend lagen sie auf dem mit fedrigen Gräsern bewachsenen Boden und ließen sich von der immer heißeren Sonne wärmen. Der Verkehr hinter dem Bauzaun wurde lauter, die Straßenbahn quietschte. Kein Mensch in der Nähe.
Irgendwann saß Mini-Marco wieder auf dem Sofa, gewaschen, in einem sauberen T-Shirt und mit Scheitel. Porno hatte ihm einen nassen Kamm durchs Haar gezogen. »Wenn du einen Pieps zu ihr sagst, bist du tot. Verstanden?« Mini-Marco hatte genickt und zugeschaut, wie Pornostar seine Sporttasche und einen braunen Kunstlederkoffer auspackte, Schuhe, Jacken, Hemden in den Schrank neben dem Fernseher hängte, neben Anitas Fummel, in das leere Loch, wo Einos Klamotten gewesen waren. Mini-Marco schniefte leise und ging ins Bett. Anita, die bald danach zur Tür reinkam, Porno Küßchen gab und Einkäufe auspackte, klang ganz fröhlich: »Habt ihr euch bekannt gemacht?« »Ja, klar, aber der muß noch viel lernen, der Junge.« Sie sah, als sie den Vorhang zur Seite schob, im Schein der Flurlampe nur noch seine Haare, die blondgesträhnte Bürste. Das Gesicht war tief im Kissen vergraben. »Der kleine Spinner schläft schon.«
Marco
Hinter dem Vorhang knipst Marco die Lampe an. Mickymaus grinst wie eh und je. Ein Ohr ist geklebt, aber sie ist immer noch da und leuchtet zu seiner Begrüßung auf. Schade eigentlich, sie wird hierbleiben müssen. Paßt nicht in den Rucksack. Micky wirft ihren gelben Lichtkreis auf die Matratze, auf die hellblaue Bettwäsche, die an vielen Stellen schon löchrig ist und so leicht reißt wie Klopapier. Marco schmeißt seinen Rucksack in eine Ecke und hockt sich hin. Der winzige fensterlose Raum riecht nur nach ihm selbst. Bis hierher ist Pornos Gestank nicht vorgedrungen. Sein Herz klopft wieder, anders als vorhin an der Wohnungstür. Er ist aufgeregt, aber es fühlt sich nicht schlecht an. Er wühlt in dem Karton, der am Fußende steht, zieht seinen Gameboy raus. Er ballert ein bißchen rum, dann fühlt er sich ruhig genug für den Zettel. Marcos Finger wandern unter die Matratze und ziehen ein mehrfach gefaltetes Stück Papier heraus. Anita hat es damals in den Müll geschmissen, deshalb ist es fleckig und hat einen langen Riß. Marco streicht es glatt, so kann man die mit blauem Kugelschreiber ordentlich hingemalten Wörter noch lesen: »Ich halt’s hier nicht mehr aus, ich geh heim nach Eestimaa . Kommt nach, wenn ihr wollt.« Und dann Name und Adresse, die klingen wie ein Zauberspruch: Eino Rännumees, Pedassaare, Rahu mois, Lääne-Virumaa. Eestimaa.
»Sein Scheiß-Estland, das kann er sich sonstwohin stecken, ich geh da nicht hin, niemals!« Die dicke Anita heulte, ihr lief die Wimperntusche runter, sie wischte sich mit den Fäusten schwarze Streifen über die Backen. »Das blöde Arschloch! Sein Mistland am Ende der Welt ist ihm wichtiger als wir. Du kannst ihn echt in die Tonne kloppen.« Marco war ausgerastet: »Er wollte, daß wir mitkommen! Warum sind wir nicht mitgegangen? Du bist schuld!Ich hätte es gepackt, ich kann schon ein paar Sachen sagen, der Eino hat mir alles beigebracht: palun , aitähh , kiisu , kurat . Jetzt kommen wir nie ans Meer!«
Eino konnte es in Stuttgart nicht mehr aushalten, weil ihm das Meer fehlte, der Geruch und die Kraniche, die im Spätsommer jeden Abend da rumflogen. Eino hatte gesagt, ihr Geschrei höre sich an wie Hundegebell. Fliegende Hunde über dem Meer. Marco wollte das hören. Eino wußte genau, was er vorhatte: »Meine vanaema hat ein
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