Kürzere Tage
Haus, es heißt Rahu mois . Wenn du in der Küche stehst und abwäschst, kannst du aus dem Fenster das Meer sehen und davor Kiefern, die wachsen bis zum Strand runter. Und die Kartoffelrosen, die blühen da auch, büscheweise, mit Blüten, so groß wie deine Hände. Meine vanaema wohnt da ganz allein, und sie ist ziemlich alt. Das Haus ist ein bißchen kaputt, es regnet durch das Dach, und man müßte es neu anstreichen, aber das ist eine gute Arbeit. Du könntest mir dabei helfen, karu . Es gibt einen Garten und ein Gewächshaus für Tomaten, Gurken und so, und im Meer Fische ohne Ende, und im Wald kann man Fallen aufstellen, für einen jänes , oder mal einen p˜oder schießen. Draußen im Meer liegt ein Felsen, die Alten sagen, der vanapagan hat ihn aus Wut da reingeworfen, weil ein kluger Fischer ihn überlistet hat. Da kann man drauf liegen, nach dem Baden, und in den Himmel schauen, dann siehst du die Möwen und fühlst den Wind und die Sonne. Wir machen das Haus schön. Es gibt eine alte Scheune und einen Holzschuppen, ich hab mir das alles überlegt, und die bauen wir aus und machen neue Dächer drauf, legen ein paar hübsche Teppiche rein und gute Betten. Ich hab auch was gespart. Und dann vermieten wir an Touristen. Im Sommer. Da kommen die Finnen und die reichen Russen und in letzter Zeit auch Engländer und Deutsche. Anita kann das machen, die ist doch gut in so was, und vanaema kocht eesti toit , und ich führe die Leute durch das Moor und den Wald, fahr raus aufs Meer zumFischen, und im Winter, wenn alle weg sind, sitzen wir am Kamin und trinken kohv .«
Schließlich heulten Anita und Mini-Marco beide, standen sich gegenüber, der Tisch war zwischen ihnen, und darauf lag der Zettel, den sie in der Faust zerknüllte. Danach hatte sie sich neu angemalt, um rauszugehen und erst morgens wiederzukommen. Bevor sie die Wohnungstür zuknallte, schrie sie noch: »Und überhaupt, ich kann sowieso nicht mit einem Typen leben, der tagelang kein Wort sagt und bei dem man nie weiß, was er denkt.« Marco verstand das nicht. Er fand es völlig in Ordnung, daß Eino nicht so viel quatschte. Außerdem redete er schon. Mit ihm jedenfalls.
Marco hat die Idee, nach Estland abzuhauen, noch nicht besonders lange. Er kam nicht drauf, wieso es ihm wieder eingefallen war. Komisch eigentlich, denn der Zettel steckt seit Ewigkeiten in der Matratze. Wahrscheinlich hatte Mini-Marco ihn vergessen und vor lauter In-die-Hose-Scheißen keine Zeit gehabt, um daran zu denken. Immerhin hat er dieses wichtige Stück Papier in Sicherheit gebracht, vor Porno versteckt. Und jetzt ist alles wieder da: Eino, Estland, das Meer und der Zettel. Wie eine Tür, die er bloß nicht gesehen hat. Eine Tür, die er nur aufreißen muß, aufreißen und abhauen. Diesmal wird es klappen, das weiß er. Denn da ist noch die Geschichte, die Hassan ihm erzählt hat. Von der Kichererbsendose.
Er braucht Geld, viel Geld. Und wenn er erst mal dort ist, wird er auch Eino finden, mit der Adresse und so. Er kennt sich aus, weiß sogar, wie die estnische Fahne aussieht: blau wie die Kornblume, schwarz wie die Flügel der Schwalbe, weiß wie die Kreidefelsen. Man muß hinfliegen oder mit dem Auto fahren, drei Tage im Auto, über Polen, Lettland, Litauen, Namen, die ihm nichts sagen, aber er weiß das von Eino. Man fährt die Nächte durch, und alles sieht plötzlich anders aus, es riecht anders, vielleicht schon nach Meer.
Marco wird sich nicht wieder so dumm anstellen wie beim ersten Mal. Mini-Marco, der kleine Idiot, war kurz nach seinem zehnten Geburtstag abgehauen. Er wollte zur Oma nach Marbach. Das war einfach. Mit der dicken Anita waren sie fast jedes Wochenende hingefahren. Nach der Schule stieg er am Olgaeck in die U-Bahn, fuhr bis Hauptbahnhof. Dann in die S 4, die dunkelblaue, bis Endstation. Mini-Marco fuhr schwarz und wurde nicht erwischt. Aber in die Schubartstraße kam er nicht mehr, denn vor dem Bahnhof auf dem Parkplatz, wo die Menschentrauben aus dem Zug sich in alle Richtungen auflösten, die die mit Pfeilbüscheln besetzten Wegweiser anzeigten, in den kleinen Park mit dem Springbrunnen wuselten, zum Kiosk, da lehnte Porno in der offenen Autotür, riesig und schrecklich. Mini-Marcos Jeans waren plötzlich naß geworden, das Wasser rann ihm in die Turnschuhe. Er wollte wegrennen und konnte es nicht, stand da wie der Depp. Porno packte ihn an den Handgelenken und zerrrte ihn zum Auto. »Du kleiner Wichser, wo wolltest du hin? Paßt es dir nicht bei
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