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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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um den Nacken, daß Mini- Marco das Gefühl hatte, in einem Schraubstock festzusitzen, und noch Stunden später den Kopf nicht drehen konnte. »Hast du genug?« hatte Eino dann gefragt, leise und sauer, und Mini-Marco hatte sein Ja herausgebrüllt, weil er nicht nicken konnte in diesen Pranken. Außer Einos Spezialgriff kannte er noch Anitas Backpfeifen, die knallten und Fingerabdrücke hinterließen, und die Schläge mit dem eingeseichten Laken. Oder es gab einen Arschvoll von Oma Bine, mit der bloßen Hand, die ihr bald weh tat und sie schnell aufhören ließ. Oma Bine hatte auch »Katzenköpf« und »Watschen« verteilt, und Mini-Marco dachte daran zurück wie an die billigen Kaubonbons, die sie ihm immer in alle Taschen stopfte, wenn er ging, und die weichen gelben Kekse mit Orangenfüllung, die es nur bei ihr gab.
    Er brüllte unter dem Rohr, kreischte um Hilfe, nach Anita, die einfach nicht auftauchte. Er brüllte nach Oma Bine, nach Eino, zuletzt seinen eigenen Namen, nicht Marco, sondern karu , karu , karu gegen die furchtbaren, kalten und schneidenden Stöße des Rohrs. Doch jedes Geräusch ging unter im Dröhnen von Pornostars Stimme: »Halt’s Maul, du kleine Russenratte, ich bring dich um! Dir werd ich’s zeigen, das machst du nicht noch mal. Hast du’s jetzt kapiert? Hör auf zu jaulen, hör auf mit dieser Dreckssprache, hör auf!« Mini-Marco wurde still und spürte die harten, hastigen Schläge, mit denen sein Herz Blut durch den Körper jagte, hörte ein hohes Pfeifen, wie von einem Tier, das er erst später als das eigene Atmen erkannte, und langgezogenes, leises Gewimmer, das mit Speichel, Blut und Rotz vermischt, aus seinem Mund kam. Er war unter das Sofa gerollt. Da lagen Krümel und so ein gelbes Plastikding aus einem Überraschungsei. Die dicke Anita war keine große Putze. Der Staub bildete Flocken, Nester, manche so groß wie Mini-Marcos geballte Fäuste. Sie schlichen sich vor sein Gesicht, wanderten träge vor seinen halbgeschlossenen Augen herum. Er schaute ihnen zu, wie sie da wuselten. Eins kam ganz nah an seine Hand, und er streckte den Zeigefinger aus, um es zu berühren. Es blieb sitzen, und er fühlte, wie weich es war, wie es atmete und sich bewegte.
    Mini-Marco roch den fettigen Kupfergeruch des eigenen Blutes. Es roch genau wie der Hase, den Eino an einem Morgen in den Sommerferien gefangen hatte. Sie waren unglaublich früh aufgestanden und mit der U-Bahn bis Türlenstraße gefahren. Es war noch dämmrig. Auf der Heilbronner Straße war kaum ein Auto unterwegs. Überall piepten Vögel, aber sie waren nicht zu sehen. Marco erinnerte sich, daß Mini-Marco versucht hatte, Eino zu den noch geschlossenen Motorradshops jenseits des Fahrdamms zu zerren. Aber Eino hatte ihn beim Kragen genommen und durch die Lücke eines Bauzauns geschoben. Sie stiegen einewacklige Metalltreppe runter und kamen auf eine Riesenprärie mitten in der Stadt. Gestrüpp, Büsche, kleine Bäume, höher als Mini-Marco, wucherten hier auf einer Ebene, die gar nicht aufhörte, sich im Dunst verlor. Mini-Marco sah den Fernsehturm, der sich ins graue Gewölk spießte, Hochhäuser, den Turm des Hauptbahnhofs, die waldigen Hügel rings um die Stadt. »Das hier ist eine Baustelle, die nicht fertig wird. Sieht den Deutschen gar nicht ähnlich. Mußt jetzt ganz leise sein, karu .« Eino hatte sich mit raschen, kaum hörbaren Schritten einen Weg durch das Gesträuch gebahnt. Seine starken Arme schoben Zweige weg, gaben den Blick frei auf eine kleine Lichtung, bewachsen mit struppigem Gras und verschiedenen Blumen. In einem Gebilde aus Paketschnur und sorgfältig zurechtgestutzten Ästen zappelte ein großer graubrauner Hase. Sein weißer Bauch leuchtete. Die glänzenden gelblichen Augen schienen nach allen Seiten gleichzeitig zu blicken. Eino hatte dem Tier mit seinem Messer sekundenschnell die Kehle durchgeschnitten. Er sprach mit ihm, brach ein Stück Zweig ab, das er hinter die starken Vorderzähne schob. » Jänes ’ letztes Fressen. Muß man machen. Gehört sich so für einen guten Jäger.« Eino hängte den toten Hasen an den Ast eines hohen Busches. Die langen, flaumigen Ohren mit dem zarten blauen Geäder baumelten im Morgenwind. Er schnitt das Fell oberhalb der langen Pfoten mit den ledrigen Ballen an der Unterseite rundherum durch, schob das Messer zwischen Haut und Fleisch und schnitt so an den Innenseiten der Beine bis zum haarigen Hodensack und Pimmel, die er abtrennte. Als öffne er ein Päckchen Butter,

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