Kürzere Tage
dem Klavier.
Statt dessen sah Luise Wenzel, der die Übergardinen am Wohnzimmerfenster zur Seite riß. »Nicht, nicht die Verdunklung!« kreischte Luise, aber er enthüllte wie ein wütender Theaterdirektor das Spektakel draußen. Mehrere Jugendliche, schlaksige Figuren in Turnschuhen, trampelten durch das Gärtle. Sie trugen Masken: eine grauenvoll in die Länge gezogene Fratze, ein grinsender Kürbis. Sie bewegten sich schnell und geschickt, johlten, tanzten durch die Beete, warfen mit Fallobst. Plötzlich traf etwas die Scheibe. Luise schrie auf und duckte sich, aber es drang nichts zu ihnen durch. Die kalkigen Schalen barsten, gaben das Eiklar und den verletzten Dotter frei, alles rann nach unten. Während Luise sich an Wenzel klammerte, der hinauswollte, »um denen mal gehörig die Leviten zu lesen«, legte sich der Eierregen als schmieriger Vorhang über das Glas. »Nein, die schlagen dich tot! Du bist alt, bleib hier, ich bitte dich.« Die Gestalten verschwanden in der Nacht.
Sie sprachen nicht mehr darüber. Wenzel war ärgerlich gewesen, weil sie sein Heldentum durch ihr »dämliches Geschisse« verhindert hatte. »Mit denen wär ich gut fertig geworden! Was glaubst du denn? Ach, laß mich!« Die Tür zum Herrenzimmer knallte. Luise war sicher, daß er hinter den Gustav Freytag griff.Dort stand der Cognac. An kalten Tagen brachte er die Karaffe ins Wohnzimmer, um ihren Tee damit zu verlängern, ließ sie dann geheimnistuerisch wieder verschwinden. Luise gönnte ihm das Versteck mit derselben augenzwinkernden Überlegenheit, mit der sie ihrem jüngeren Bruder den halb ausgeschleckten Gsälztopf im Holzschuppen gegönnt hatte. Sie ging noch einmal durch die Wohnung, kontrollierte alle Schlösser und Fensterriegel. Raus traute sie sich nicht. So eine Sauerei. Es waren bestimmt die wüsten Kerle vom Kinderbauernhof. Kinder, daß sie nicht lachte. Da gingen doch nur Spitzbuben hin, verwahrlostes Gesindel, Türken, Albaner, Griechen, das ganze Pack. Als sie endlich ins Bett kam, schlief Wenzel schon.
Im Radio dudelt jetzt Werbung. Sie läßt es nachts gerne laufen, um bei ihren häufigen Toilettengängen nicht allein zu sein. Wenzel schläft in letzter Zeit viel tiefer als sie. Er scheint es zu brauchen, schnarcht sogar, was er früher nie getan hat. Luise vermißt seine Kommentare, wenn sie wieder zurückkommt, erbärmlich frierend trotz hochgedrehter Heizung. Sie will ihn nicht stören, indem sie sich ankuschelt. Immer war er der Nachtmensch, korrigierte Diktate und Aufsätze, las bis nach Mitternacht in seinem geliebten Dehio oder tippte Artikel für das Reichenberger Heimatbuch. Luise hingegen lag schon nachmittags gerne mit Hund und Zeitschrift auf dem Sofa und nickte ein. Seit ein paar Wochen ist es genau umgekehrt. Er legt sich nach dem Essen hin: »Ich mach mich ein bißchen lang, mit dem Dehio.« Wenn sie dann reinschaut, liegt der Dehio neben der Couch, noch nicht mal aufgeschlagen, und Wenzel schläft, die Brille sorgfältig auf dem Glastisch abgelegt.
Luise schlägt die Decke zurück und schiebt die Beine langsam in Richtung Bettkante. Die Huzak muß alles abziehen, das Laken sieht schon ziemlich knittrig aus. Sie besitzen nur weiße Bettwäsche. Das ist ihr von der Mutter in Uhlbach geblieben: Linnenim Schrank, Kante auf Kante gestapelt, an der frischen Luft getrocknet. Früher hat sie die Wäscheleine im Gärtle gespannt, alles selbst zur Mangel geschleppt, runter in die Mozartstraße, Stück für Stück eingesprengt und unter der heißen Walze durchlaufen lassen.
Heute gibt sie alles in die Wäscherei, bügelt höchstens noch Wenzels Hemden mit dem Dampfbügeleisen. Das Wunderding hat die Huzak angeschleppt. Die Huzak ist in Ordnung. Bruni hat sie hergeschickt, lieber nicht nachrechnen, wann. »Tante Luise, bei euch riecht’s immer so komisch in letzter Zeit. Seid mir nicht bös, aber ihr schafft das wirklich nicht mehr alleine, mit dem Hund und allem.« Wenzel ging die Putzfrau auf die Nerven: »Nicht zu fassen, sie ist jetzt schon so lange hier und kann immer noch nicht anständig deutsch sprechen. Die sind dazu einfach nicht in der Lage, eine Struktur zu durchschauen, sich zu konzentrieren. In Reichenberg waren die Tschechen in der Regel auch nicht die Hellsten.«
Was ihre Mutter oder die alte Annelies wohl gesagt hätten, zum Dampfbügeleisen, zum Staubsauger, zu diesen Handys, die jetzt jeder hatte, mein Gott! Wahrscheinlich wär es ihnen unheimlich gewesen: »Des goht zu einfach, des ko
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