Kürzere Tage
schiebt sie vorne in den Hosenbund. Gänsehaut läuft über seine Bauchdecke.
Luise
Wenzel hat sich vollständig unter den Decken vergraben. Im Schein der Nachttischlampe formt das Federbett einen Hügel über seinem Körper. Der stille Hügel duftet nach Weichspüler und raschelt unter keiner Bewegung, so tief schläft er. Wenzels Gesicht bleibt verborgen, nur sein Haarschopf lugt hervor, ein schönes, bläuliches Weiß, nicht dieses Zahngelb, das den Schopf der meisten Männer seines Alters verfärbt. Bei dieser Farbe muß Luise an die Hauer der Wilhelma-Elefanten denken. Wenzels Haar hat sie schon immer gerne gezaust und sich erschrocken, als sie plötzlich weiße Fäden darin fand. Zuerst verlangte er, sie solle sie ausreißen. Eitel war er schon immer gewesen. Dann gab er auf, viel früher als sie, die noch vor zehn Jahren beim Friseur Sprenger in der Pelargusstraße ›Kastanienbraun‹ verlangt hat. Aber auch schlohweiß ist er noch »der schiene Wenzel«. Luise ist stolz, wenn sie neben ihm die Straße entlanggeht. Dieser Stolz, der ihr das Kreuz durchdrückt, daß die Brüste vorstehen und das Kinn sich hebt, unterscheidet sich in seiner Intensität kein bißchen von dem Gefühl, das ihr über sechzig Jahre zuvor auf einer Tübinger Hotelterrasse den knallrot geschminkten Mund zu einem Grinsen auseinanderzog, das um so breiter wurde, je stärker sie versuchte, es zu unterdrücken.
Eine Schar in den Stuttgarter Großraum versprengter, sich selbst Deutschböhmen oder Sudetendeutsche nennender Absolventen der Reichenberger Lehrbildungsanstalt war mit ihren Ehepartnern beim ›Neckarmüller‹ zusammengekommen. Ihre Hochschulreife nannten sie beharrlich Matura. Als ob es mehr Wert hat als das schwäbische Abitur, dachte Luise, die mit 14 abgegangen war, um in einer Stuttgarter Schokoladenfabrik als Hilfskontoristin zu arbeiten. In Tübingen schien die Oktobersonne,so daß die Frauen ihre Kostümjacken auszogen und die Männer die Manschettenknöpfe herausfummelten. Kastanien knallten aus den gelbleuchtenden Baumkronen zwischen die Kaffeegedecke. Unterhalb der Ufermauer warteten Enten und Forellen auf Brot- und Kuchenkrümel. Ein Korpsstudent sprang vom Stocherkahn in den braungrünen Fluß, einer über Bord gegangenen Bierflasche hinterher, das Johlen und Klatschen der halben Terrasse im Rücken. Die blonde Kopka-Edith warf Luise über Pflaumenkuchen mit Schlagsahne hinweg einen wehmütigen Blick zu und sang in der hohen Tonlage des böhmischen Dialekts: »Das hätt’ keine von uns megen denken, daß Schien-Wenzel sich eine aussucht, die nicht von daheeme kommt.« Die Kopka-Edith mit dem schräg gelegten Dauerwellenköpfchen war kein Ripp. Die Jaksch-Hilde oder die Kretschmer-Liesl dagegen sprachen auch nach Jahren kaum ein Wort mit Luise. Aber an diesem Nachmittag hatte sie die Augen schmal gekniffen. Luise wußte genau, daß sie die Stellen musterte, an denen ihr neues dunkelblaues Sommerkleid eine Idee zu knapp saß. Sie war schon wieder auf dem besten Weg, sich ihre alte Figur zurückzufuttern, mit Schinken, Sahne, Wirtschaftswunderherrlichkeiten. »Dickerle«, sagten Kopka-Ediths Augen, »Dickerle, wie hast du das bloß geschafft?«
Sie zieht die ausgestreckte Hand zurück und verkneift sich die Liebkosung. Er soll noch ein bißchen schlafen. Verdient hat er es, nach dem Affenzirkus gestern nacht. Luise dreht sich stöhnend auf die rechte Seite. Die grünen Leuchtziffern des Weckers zeigen 6:30 Uhr, das Radio daneben babbelt leise vor sich hin.
Vielleicht hätten sie doch die Polizei rufen sollen. Aber die Angst hatte sie gelähmt, die alte Panik, die wieder in ihr hochschwappte, saures Aufstoßen nach einer Mahlzeit, die sie längst verdaut geglaubt hatte. Natürlich waren die Geräusche schuld daran, das hohe Pfeifen der Böller, das Knattern derKanonenschläge, dazu die Dunkelheit. Im Moment des Hinausstürzens, bloßfüßig, im Hemd, war sie wieder im Keller in der Reinsburgstraße und wartete in Todesangst darauf, daß das Pfeifen der fallenden Bombe in einem alles auslöschenden Knall enden würde, schmeckte die fasrige Bitterkeit des Holzstücks zwischen ihren Zähnen. Das Holz hatte ihr die Büschle reingeschoben, weil sie sich immer Lippen und Zunge aufbiß. Die Büschle wurde dann erschlagen. Von einem Klavier, man stelle sich das vor. »Ein Grotrian-Steinweg!« rief ihr Mann auf der Beerdigung immer wieder. In der Ruine mußte sie rumstöbern. Die Wohnzimmerdecke war runtergekommen mitsamt
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