Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
Vom Netzwerk:
Hölderlin-Gymnasium – auch noch Vermieter. Die Nachbarn mußten neidisch gucken: »Die Flichtling, ha noi, des gibt’s ja net.« Sie hatte zeit ihres Lebens nie ein schwäbisches Wort benutzt, aber im Kreise der Familie konnte sie den Dialekt überraschend gut nachäffen, immer in böser Absicht. Ihr rundes Gesicht mit den breiten Backenknochen verzog sich zu einer häßlichen Fratze, und die zarte Haut schlug Falten bis unter den sorgfältig frisierten schwarzen Scheitel. Traudl hatte keine einzige Freundin im Kollegium der Obertürkheimer Grundschule. Sie blühte nur bei den Matura-Treffen auf.
    Luise angelt den Morgenrock vom Türhaken. In die Ärmel zu kommen, besonders in den linken, ist eine Quälerei. Dann macht sie einen Knoten, der lommelig bleibt, keine Kraft. Sie lockt Schlamper, der schon hinter ihr sitzt. Im Flur ist es dunkel. Wenzel läßt gerne das Licht brennen, aber sie erträgt das nicht, drückt den Schalter aus, wo sie nur kann. »Du brichst dir noch den Hals mit deiner Sparsamkeit.« Sie geht auf die Toilette, friert, obwohldie Heizung im Bad auf Hochtouren läuft. Der Gasboiler bollert, sie sieht die kleine blaue Flamme züngeln. Es tröpfelt aus ihr heraus. So wenig kommt, aber gedrückt hat es wie nach zwei Flaschen Bier. Der Körper, in dem sie leben muß, ist ein baufälliges Haus geworden, unansehnlich und verwohnt. Die Oberschenkel, an denen sie Nachthemd und Morgenrock hochgerafft hat, werfen Falten und Fältchen, darunter ein Netz von bläulichen Adern wie Flüsse und Nebenflüsse auf einer Landkarte. Brüste, Bauch und Armfleisch sind nicht der Rede wert. Sie folgen der Erdanziehungskraft. Die Hände sind Klauen, aber Klauen mit Nagellack.
    Luise hat ihren Körper nie sonderlich gemocht. Da schlug alles an und immer an den falschen Stellen. Dickerle hatte nicht die richtige Figur für das ranke, herbe deutsche Mädel, das von den Plakatwänden leuchtete. Dem Eugen hatte das gefallen: »Du bist eben doch ein Dorfweible, das hab ich gleich gesehen. Komm, tu den Kram runter!« An den Strumpfbändern zerrte er wie ein kleiner Junge an der Weihnachtsverpackung. So war es also, verlobt zu sein. Sie mochte es, wenn er sie zwickte, in die Brüste und den Hintern, nicht zu fest, aber kräftig. Der Eugen. Viele Nächte hatten sie nicht zusammen gehabt, und diese traurigen Zusammentreffen im Hotel am Bahnhof, wo er so angstgeschüttelt war, daß er nichts mehr zustande brachte, die zählten ja wohl nicht. Da war er wie ein Fisch gewesen, still und kalt. Keine Witzchen mehr, statt dessen Schnaps. Gekotzt hatte er, sie mußte die Uniform am Waschbecken ausspülen. In nassen Hosen war er zu seinem Zug gegangen. Kein Grabstein. Und der dicke Hintern, in den er so gern seine Finger gegraben hatte, schmolz dahin in Kellern und Bunkern. Sie kroch unter die Erde und wieder heraus, während sich die Stadt jedesmal veränderte, bis sie zum Schluß nicht mehr erkennen konnte, daß sie je an diesem Ort gewohnt hatte. Ihrem Stuttgart glaubte doch jetzt keiner mehr, daß es mal zu den schönsten Städten des Landes gehört hatte. Kaputtgart, zerschlagenund ruiniert. Wie war das beim Uhland: »Nur eine hohe Säule zeugt von verlorner Pracht. Auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.« Es gab nichts Vertrautes mehr. Auch ihr Körper, selbst ihr Gesicht, waren, ganz ähnlich dieser Stadt, völlig verändert, ausgemergelt, mager, schmutzig und dabei froh, nicht völlig ausradiert worden zu sein.
    Stöhnend steht Luise auf, drückt die Spülung. Schlamper klagt jetzt laut und kratzt an der Tür. »Ja, mein Guter, ich komm ja schon!« Sie tastet sich langsam die Wand entlang, Vorsicht, da hängt das Jeschken-Bild, der schneebedeckte Gipfel ragt aus dunkelgrünen Wäldern, sie verschnauft davor.
    »Wo fänd ich deinesgleichen, du liebe Heimathöh?
    Mir wird ums Herz so eigen, ich muß in Demut schweigen,
    wenn ich von fern dich seh.
    Wie’s treue Vaterauge bewachst du meine Ruh.
    Und glaub ich mich verlassen, zieh einsam meine Straßen,
    du siehst mir immer zu.«
    Traudls Sopran wurde jedesmal schrill vor Rührung. Viele weinten, wenn am Ende der Zusammenkunft das Jeschkenlied angestimmt wurde. Luise war peinlich berührt und gleichzeitig neidisch. Was würden wir denn singen, wenn sie uns vertrieben hätten? ›Auf der schwäb’schen Eisebahne‹ vielleicht?
    Draußen dämmert es. Im Wohnzimmer öffnet sie die Glastür zum Gärtle einen Spalt weit. Die kalte Morgenluft schwappt über ihre

Weitere Kostenlose Bücher