Kürzere Tage
ein Tröpfchen Chardonnay aus dem Mundwinkel. Nachdem er sich als Tobias, ein alter Bekannter von Wolfgang, vorgestellt hatte, fing er tatsächlich von Literatur an, einem Buch, das er so toll fand, daß er es gleich Conny schenken mußte und außerdem noch als Bettlektüre ins Hotel mitgenommen hatte. »Julio Cort´azar ist ein südamerikanischer Autor, er hat großartige Erzählungen geschrieben. Zu seinem Geburtstag Ende August hab ich ein großes Porträt über ihn gemacht. Dabei bin ich süchtig geworden.« An der rechten Hand trug er einen silbernen Ring mit dreieckigem Ornament, den Leonie genauso affig und gewollt fand wie seine Brille und die spitzen schwarzen Lederschuhe. Die Vieldeutigkeit des Schmucks ärgerte sie. Er konnte alles bedeuten: Treuesiegel des schwulen Lovers, Erinnerung an einen Urlaub in Mexico, Ehering. Bei Leonie ist auf den ersten Blick alles klar: Markenklamotten, Designerhandtasche, breiter goldener Trauring. Bin ich leicht zu durchschauen? Bin ich simpel?
»Ich lese nie«, sagte sie laut und hoffte, mit diesem Satz helles Entsetzen auszulösen. Aber Tobias grinste nur, schüttelte den Kopf und redete weiter: »Bei Cort´azar bekommt die Wirklichkeit Risse wie unter einem verborgenen Druck. Menschen und Monster existieren nebeneinander. Oft schreibt er über Kinder, wie sie spielen, sich verkleiden, eine Ameisenfarm bauen. Ein Mann verwandelt sich in einen Molch, einen Axolotl. Delia, eine moderne Hexe aus einem Wohnblock in Buenos Aires, tötet ihren Verlobten mitVerzweiflung und vergifteten Pralinen. ›Der Mond schien geradewegs auf die weißliche Masse des Kakerlaken, der Leib seines ledernen Panzers entkleidet, und ringsherum, mit Pfefferminz und Marzipan vermischt, die Stückchen von Beinchen und Flügeln, das Pulver der zermahlenen Deckflügel.‹« Während er sprach, merkte sie, wie voll und dunkel seine Stimme war. Er klang wie ein Radiosprecher oder Schauspieler. »Bei Cort´azar fühlst du dich wie im Urlaub, alle trinken Mate und Anislikör, lesen die ›´Ultima Hora‹, sitzen mit Wassermelone im Patio, hören die Zikaden. Es würde dir gefallen.« Tobias’ Augen glänzten, und Leonie wurde wider Willen neugierig. Er redete weiter von Cort´azar, der diese wunderschöne und kluge Frau Aurora hatte, sie irgendwann verließ, als bärtiger Hippie in Paris mit einer anderen zusammenkam.
Grölen vom Tresen ließ sie registrieren, daß ihre Mannschaft auch diesmal gesiegt hatte. Kurz dachte sie an Simon, der vor ein paar Jahren, nach einem deprimierenden Spiel gegen Bayern München, gegen das Sideboard getreten und sich den Mittelfußknochen geprellt hatte. Tobias stellte ein neues Glas Wein vor sie hin. Er sah sie an, bis sie lachend die Augen niederschlug. »Ich habe ewig nicht geflirtet, besonders nicht mit einer Frau, die zugibt, nicht zu lesen.« Leonie strich sich das Haar aus der Stirn. »So ist es ja auch nicht. Ich lese schon. Fachliteratur, Zeitungen und ›Geo‹. Das finde ich interessant. Aber Bücher, ausgedachte Geschichten, die langweilen mich. Erinnern an die Schule.«
Der heilige Antonius versagt. Leonie zieht ihre Hand aus der Ritze zwischen Sitzpolster und Rückenlehne. Krümel und ein Schnuller, kein Ohrring. Es hat keinen Sinn. Sie muß nach Hause. Sie läßt den Volvo an und fädelt sich in den Feierabendverkehr ein, rollt die Sonnenbergstraße hinunter. An der Kreuzung Dobelstraße biegt sie falsch ab, rutscht am Waschsalon seit 1969, dem spanischen Restaurant und dem Bethesda-Krankenhaus vorbeiin Richtung Zentrum. Das orangefarbene Rechteck des alten Waisenhauses steht ruhig im Licht der langsam schwindenden Sonne. Dahinter bauen sich die dicken Türme des Alten Schlosses und die beiden ungleichen Stiftskirchentürme zu einer bescheidenen Stadtsilhouette zusammen.
Tobias schreibt ein Buch über Stuttgart. Er hat gestern davon erzählt. »›Die Stadt ohne Gesicht‹ wollte ich es zuerst nennen, denn der Krieg hat ihr ja das schöne Gesicht genommen. So eine Art brutales Facelifting. Jetzt ist sie bloß noch praktisch, man kann leicht mit dem Auto durchfahren. Auf Straßen, die eigentlich von den Nazis geplant wurden. Und alle neuen Häuser sehen wie Würfel aus, Betonwürfel in jeder denkbaren Farbe und Form, winzige Kästen und hochaufgetürmte, in den vielfältigsten Abstufungen gestapelte Kästen. Aber dazwischen steht plötzlich etwas Altes, wie vergessene Dekoration, ein Sandsteinhaus mit Schnörkelfassade, ein Schloß, ein
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