Kürzere Tage
Schulter hingen lässig ihr Tweedmantel und die Übernachtungstasche. Da drin steckte das Snoopy-T-Shirt, genau richtig für Connys Klappsofa. Aber ihre Unterwäsche war hübsch, aprikosenrosa,aprikosa, das stand ihr. Sie kicherte. Dann trat Leonie aus der Kneipe in die Oktobernacht: Kopfsteinpflaster, Fachwerk, Studenten auf dem Heimweg. Ein paar drehten sich nach ihr um – it’s a kind of magic . Der Turm der Stiftskirche schlug zur vollen Stunde. Der Mann ging drei Schritte hinter ihr wie der englische Prinzgemahl.
Die Scheiben des Volvo beschlagen langsam. Leonie durchwühlt ihre Handtasche, findet ein eingetrocknetes Brezel-Ärmchen und einen Kuli, ein Taschenbuch. Sie nimmt es heraus. Der Mann auf dem Cover hat eine Hand in der Jackettasche, die andere hält den Mantel fest, der über seiner Schulter hängt. Sein Blick ist nachdenklich, fast traurig, gleichzeitig erwartungsvoll. Schwarze Haartolle, dunkle Brauen, ein echter Latin Lover. Leonie schlägt das Buch auf. »Für Leonie, alles Glück! In Begeisterung, Tobias«. Sie lächelt, dann stopft sie es zurück. Der Ohrring bleibt verschwunden. »Wenn ihr was verliert, müßt ihr zum heiligen Antonius beten.« Das wußten schon ihre Kindergartentanten. Die Oma hatte einen im Geldbeutel, winzig und schwarz in einer silbernen Kapsel, kaum länger als ein Fingerglied. Leonie schüttelt den Kopf und läßt das Magnetschloß der Handtasche zuschnappen.
Draußen knallt eine Tür. Janet verläßt den Kindergarten in einem auberginefarbenen Stepp-Parka. Sie rahmt ihr blondiertes Haupt mit einer pelzbesetzten Kapuze und stolziert die Sonnenbergstraße hinunter, vermutlich hinein in ein Wochenende voll Shoppen, Ficken und Fernsehen. Keine 25, ohne jeden Klotz am Bein. Leonie ist froh, daß sie sich nicht umdreht. Sie schwitzt, ihr Gesicht im Rückspiegel ist blaß, die Mundwinkel hängen. Sie sieht Krähenfüße und Stirnfalten, Katerspuren. Selbst schuld, Schlampe. Simon, du Arschloch, warum bist du nicht mitgekommen?
Das ›Hexle‹ in der Tübinger Altstadt hatte einen gemütlichenEcktisch. Dort saß Leonie vor ihrem Weißwein, zusammen mit Connys Schwester und anderen Frauen. Es wurde angestoßen und geplaudert, Kinder, Job, Urlaubsziele. Der Typ, der unvermittelt seinen Stuhl heranschleifte und Leonie ansprach, trug einen Rollkragenpullover und eine dieser übertriebenen Brillen. So ein Pseudo-Intello, ganz in Schwarz. Wer ist gestorben? dachte Leonie automatisch. Die Werbeagentur, die Leonies Bank manchmal heranzieht, beschäftigt solche Leute. Kreative, die sich den Anzugträgern haushoch überlegen fühlen, auch wenn sie wahrscheinlich nicht die Hälfte verdienen.
Der im Vergleich zu Simon kleingewachsene Mann machte eine theatralische Handbewegung in Richtung Tresen. Im Fernseher über der Theke flimmerte die zweite Halbzeit des Mittwochsspiels: VfB Stuttgart gegen Hannover 96, stöhnend und händeringend beobachtet von einer auf Barhockern herumrutschenden Gruppe. Auch Leonies Blick war in der letzten halben Stunde immer wieder dorthin gewandert. Sie mochte G´omez und Cacao besonders und war, genau wie Simon, euphorisiert vom Aufstieg des VfB.
»Fußball langweilt mich zu Tode.« Die Augen hinter der rechteckigen Brille waren braun. Er bewegte sich ruhig und sicher, hatte schöne Zähne und wenig Haare, die ohne peinliche Glatzenverdeckungsversuche frisiert waren. »Worüber möchtest du denn reden, über Weltliteratur?« fragte Leonie und schaute ihn an, spöttisch, wie sie hoffte. »Was gibt es an Fußball auszusetzen?« »Nichts, aber ich schlafe einfach dabei ein.« Unter dem weichen Pullover hatte er einen kleinen Bauchansatz. Vorsichtig stellte er sein Bierglas neben Leonies Wein, dazu ein Schüsselchen Knabberzeug. Hat sich schon gut versorgt, die kleine Couchpotato, dachte sie und streckte selbstgefällig die fitneßgestählten Beine aus. »Ich kann es mir eigentlich nicht leisten, aber das Zeug schmeckt so gut, und unser Geburtstagskind hat dochausdrücklich geschrieben: Feiern, als ob’s kein Morgen gäbe.« Er drehte seinen Stuhl einmal um, setzte sich breitbeinig, die Lehne nach vorn. Schon wieder mußte er aus der Reihe tanzen. Leonie rückte ein Stück zur Seite, aber er lächelte sie an und schob die Pistazien und Erdnüsse zu ihr hinüber: »Iß mal, du kannst es dir wirklich erlauben.« Sein bewundernder Blick freute sie, sie konnte nicht anders. Sie lächelte zurück, schlug die Oberschenkel übereinander, angelte mit der Zungenspitze
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