Küss den Wolf
den Stuhl neben sie plumpsen ließ.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, die Leichtigkeit der letzten Tage verloren zu haben und stattdessen eine tonnenschwere Last mit mir herumzuschleppen. »Nichts Besonderes«, wisperte ich zurück, fest entschlossen, diesem Lackaffen von Chefredakteur erst gar keine Bedeutung beizumessen. Wer war Marc Jensen schon, dass er sich hier aufplusterte, als sei er bereits Henri-Nannen-Preisträger?
Meine Leser liebten meine Filmbesprechungen, also gab es aus meiner Sicht überhaupt keinen Grund, irgendetwas an meiner Art zu schreiben zu ändern!
Der große graue Wolf stürmte mit gefletschten Zähnen auf Rotkäppchen zu. Rotkäppchen wich zurück, doch es gab kein Entrinnen. Die Bestie hatte es auf sie abgesehen und wollte nur eins: mit ihr zusammen sein – auf ewig…
Ich wusste nicht, ob ich mich fürchten oder laut loslachen sollte. Der Film wirkte an einigen Stellen unfreiwillig komisch, anstatt das Kinopublikum zu schockieren und mit der Heldin mitfiebern zu lassen. Davon abgesehen hatte ich sowieso große Mühe, mich auf die Geschichte einzulassen, weil mich die Gegenwart von Leo ziemlich durcheinanderbrachte.
Wir hatten uns wie vereinbart kurz vor Filmbeginn an der Eingangstür des Cinemaxx getroffen (er hatte die Karten netterweise schon besorgt) und saßen nun Seite an Seite im Kinosaal. So nah war ich Leo zuletzt gewesen, als ich auf dem Beifahrersitz seines Cabriolets gesessen hatte. Und nun hatte ich tausend Fragen: Warum nahm Leo diesmal nicht meine Hand?
Weshalb legte er bei den wirklich gruseligen Szenen nicht einfach den Arm um mich? Und wann würde er mich endlich, endlich küssen?
Obwohl ich eigentlich kein besonderer Fan von Popcorn war, naschte ich aus Leos Tüte. Auf diese Weise mussten wir – wenn auch nur kurz – unsere Köpfe zusammenstecken, bevor jeder wieder in sein ganz eigenes Universum zurückglitt.
Im Gegensatz zu mir schien Leo nämlich von dem Film total gefesselt zu sein…
»Und, wie hat’s dir gefallen?«, fragte er mich, als wir danach wieder auf die Straße traten. Mittlerweile war es dunkel geworden und es fuhren nur noch wenige Autos. »Das würde ich dir gern in Ruhe erzählen. Hier gegenüber ist eine Bar. Hast du Lust, noch was trinken zu gehen?« Anstelle einer Antwort blickte Leo auf seine teuer aussehende Armbanduhr und schüttelte schließlich den Kopf. »Tut mir leid, Pippa, aber ich muss morgen sehr früh aufstehen, weil ich eine Besprechung habe. Aber ich fahre dich natürlich noch nach Hause.« Keine zehn Minuten später fand ich mich verwirrt und auch ein wenig wütend vor unserer Eingangstür wieder. Die Fahrt war viel zu kurz gewesen, um noch über etwas anderes als den Film zu reden. »Pippa, komm jetzt bitte rein, es ist schon spät«, rief Verena, die gerade auf dem Balkon stand und offenbar nach mir Ausschau hielt. Ich schrak zusammen, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass sie auf mich warten würde. Leo stieg aus dem Wagen, winkte Mum zu und sagte dann: »Du solltest dich besser beeilen, war schön mit dir! Gute Nacht.« Dann sah ich enttäuscht zu, wie er im nächtlichen Häusermeer verschwand.
»War das dieser Leo, der neulich hier angerufen hat?«, wollte Verena wissen, als ich sie schlecht gelaunt grüßte und dann meine Jacke an die Garderobe hängte. Ich knurrte »Ja« und ging schnurstracks in mein Zimmer, gefolgt von Martini, die sich aufführte, als hätte jahrhundertelang keiner mehr mit ihr gespielt oder sie gestreichelt. Alle Lebewesen brauchen Aufmerksamkeit und Liebe, dachte ich traurig und kraulte die Katze an der Stelle unterm Kinn, wo sie es am liebsten hatte.
10.
Mittwochnacht – Auf einer
menschenleeren Straße
Er schaute zum hell erleuchteten Fenster hinauf und erblickte nach einer Weile die Silhouette der alten Dame.
Sie ging gebeugt und schien zu humpeln.
Bestimmt saß ihr der Schrecken immer noch tief in den Knochen. Eine tote Ratte vor der eigenen Haustür vorzufinden, war natürlich nicht angenehm…
Deshalb hatte er sich auch beeilt, so schnell zu kommen wie nur möglich, begleitet von einem Kammerjäger, der sich des Tierkadavers annehmen sollte.
»Wenn du im Leben etwas erreichen willst, dann halte dich an die Profis«, hatte sein Vater immer gesagt.
Und er hatte recht gehabt: Wie durch Zauberhand war das tote Tier wenig später verschwunden und der Hausflur mithilfe eines starken Desinfektionsmittels gereinigt.
Danach hatte der Kammerjäger auf jeder Etage sowie im Keller
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