Küss den Wolf
Aluminiumkästen mit RATTISAN aufgestellt. Man musste bei diesen Tieren vorsichtig sein, denn sie waren äußerst klug. Eines von ihnen spielte immer den Vorkoster, um notfalls die Artgenossen vor Gefahr zu warnen. Deshalb war es auch so wichtig, dass das Gift nur langsam wirkte. Es sollten schließlich möglichst viele Ratten davon fressen.
Ein totes Tier wäre ein klarer Warnhinweis gewesen…
Doch so dauerte es qualvolle zwei Tage, bis die Ratten innerlich verblutet und gestorben waren.
Währenddessen blieb genug Zeit, um die ganze Horde auszurotten.
Genau das hatte er der alten Dame auch erklärt. Er hatte sie beruhigt und in den Arm genommen. Ihr knochiger Körper hatte gezittert wie Espenlaub und dicke Tränen waren über ihre faltigen, schlaffen Wangen gekullert.
»Es wird alles wieder gut«, hatte er gesagt und sie in seinen Armen gewiegt wie ein Baby.
»Es wird alles wieder gut…«
11.
Donnerstag, 6. April
»Was ist los mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen ganz schlechten Tag gehabt«, fragte Tinka besorgt und umarmte mich, als ich sie nach Dienstschluss beim Büromarkt Jansen abholte, wo sie ihre Lehre machte. Wir wollten gleich in die Sushi-Bar gehen, um dort die anderen Maki-Girls zu treffen. Max zerrte ungeduldig an der Leine und machte unaufgefordert Männchen. »Ich glaube, Mäxchen hat sich heute gelangweilt«, lachte ich und versuchte, mit dieser Bemerkung Tinkas Frage zu umgehen. »Ist ja auch nicht jederhunds Sache, seine Tage im Büromarkt zu verbringen.« Doch Tinkabell kannte mich gut. Zu gut. »Nun kümmere dich mal nicht um den Hund, denn dem geht’s bestens. Er wird den ganzen Tag bespaßt und gefüttert. Aber du siehst aus, als hättest du gerade erfahren, dass du an einem Testprogramm für die Nasa teilnehmen musst und für zehn Wochen ins All geschossen wirst. Ich will auf der Stelle wissen, was passiert ist.« Sollte ich ihr endlich von Leo erzählen?
»Ach, es ist eigentlich gar nichts«, wiegelte ich ab und streichelte Max, der nun seine Leine im Maul trug und schwanzwedelnd neben uns herlief.
»Ich bin nur sauer, weil Marc Jensen meine Filmkritiken nicht leiden kann und jetzt meint, sich als Big Boss aufspielen zu müssen.« Ob Tinka diesen Köder schluckte?
»Marc Jensen? DER Marc Jensen?« Mit einem Mal klang Tinkas Stimme ganz aufgeregt. »Der Marc, in den ich mal verknallt war?« Ich kramte eine Weile in den Schubladen meines Gedächtnisses, bis es mir wieder einfiel: Kurz nachdem wir aufs Gymnasium gekommen waren, hatte Tinka sich Hals über Kopf in Marc verliebt, der zwei Klassen über uns war und keinerlei Interesse an Mädchen zeigte. Oder zumindest nicht an ihr.
»Ja stimmt, genau der. Hast du ihm nicht damals Liebesbriefchen in den Rucksack geschmuggelt?«, fragte ich und sah im Geiste die knapp elfjährige Tinka vor mir, wie sie mit Glitzerstiften Briefe an Marc geschrieben und mit unzähligen Blümchen und Herzchen verziert hatte.
»Es waren Gedichte«, brummte Tinka so düster, dass ich lachen musste. Unglaublich, wie schnell man bestimmte Dinge vergaß. »Und er hat auch nie darauf reagiert. Vermutlich fand er sie genauso schlecht wie jetzt deine Filmkritiken. Marc war halt damals schon sehr von sich überzeugt. Also lass dich nicht von ihm ärgern, sondern zieh einfach dein Ding durch. Nur weil er jetzt Chefredakteur ist, bedeutet das nicht, dass er die Weisheit mit Löffeln gegessen hat! Obwohl er schon ziemlich cool ist, wenn ich ehrlich bin… seufz…«
Mittlerweile hatten wir den Sushi-Laden erreicht und sahen Lula und Jenny schon durchs Schaufenster winken. »Hallihallo«, grüßten Tinka und ich in die Runde und ließen uns auf die Stühle neben den beiden fallen.
»Und was gibt’s Neues seit den letzten paar Stunden?«, fragte ich. Lula schob das Hamburger Abendblatt zu mir rüber und deutete auf die Schlagzeile in der Rubrik Lokales :
Pech, persönlicher Racheakt oder Willkür?
Viola D.lebt seit Dienstag in Angst und
Schrecken. Nachdem sie zuerst den Kadaver
einer Ratte auf ihrem Fußabtreter vorge-
funden hatte, fiel am Mittwoch den ganzen
Tag die Elektrik aus. Als der Schaden am
Abend behoben war, nässte es plötzlich
durch die Wohnzimmerdecke der alten Dame.
Viola D. weinend: »Das sieht doch alles
danach aus, als hätte es einer persönlich
auf mich abgesehen. Aber warum? Ich habe
doch nie jemandem etwas getan«…
»Hast du nicht erzählt, dass eure Redaktionssitzung später angefangen hat, weil Marc am Dienstag
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