Küss den Wolf
mir ist etwas vollkommen anderes! Er ist nett, liebevoll und fürsorglich. Heute Nachmittag überwacht er zum Beispiel den Einbau der neuen Heizung bei Oma. Er hat extra ein günstigeres Modell für sie besorgt.« Tinka holte hörbar Luft. Wenn das so weiterging, würde bald vor lauter Spannung das Handy in meiner Hand explodieren.
»Ehrlich gesagt würde ich lieber mit dir über das alles reden, wenn du weniger angriffslustig bist«, versuchte ich einzulenken. »Ich kann verstehen, dass du dich übergangen fühlst. Aber ich habe kein Verständnis dafür, dass du auf Leo herumhackst, ohne ihn wirklich zu kennen. Ich habe ja damals auch nichts dazu gesagt, als du Marc Jensen angeschmachtet hast, obwohl ich ihn da auch schon für einen arroganten Typen gehalten habe.«
»Okay, okay, ich seh’s ja ein - eins zu null für dich«, murmelte Tinka. »Dann rege ich mich jetzt einfach ab und du hilfst erst einmal deiner Großmutter dabei, schnell wieder gesund zu werden. Grüß sie bitte ganz, ganz lieb von mir.«
Nach diesem nervenaufreibenden Telefonat legte ich mich aufs Bett, um durchzuatmen und zu entspannen. Streitigkeiten aller Art machten mich grundsätzlich fertig, aber sich mit Tinka in der Wolle zu haben, war das Schlimmste überhaupt! Wir kannten uns, seit wir drei waren. Unsere Mütter hatten sich damals auf dem Spielplatz kennengelernt und ganze Nachmittage miteinander verquatscht, während Tinka und ich zusammen Sandkuchen gebacken hatten oder ineinander verschlungen die Riesenrutsche hinuntergerauscht waren. Nachdem ich eine Weile diesen alten Erinnerungen nachgehangen hatte, schreckte ich plötzlich hoch. Wie spät war es eigentlich? Und warum war Verena noch nicht da?
Ich schaute auf die Uhr, es war kurz vor halb eins. Um drei würde Leo bei Irene die Schlüssel abholen. Und dann würde es hoffentlich wieder mollig warm in Omas Häuschen sein, wenn sie wieder nach Hause zurückkam. Wenn sie wirklich zurückkam…
Vor Angst schnürte sich meine Kehle zusammen und für einen Moment war ich wie gelähmt. Plötzlich sah ich Bilder vor meinem inneren Auge. Bilder, die meine Eltern und mich vor Theodoras Grab zeigten. Lula sang mit glockenheller Engelsstimme, Jenny hielt meine Hand – nur Tinka fehlte.
Plötzlich fühlte ich mich einsam wie nie zuvor in meinem Leben. So schlimm war es noch nicht einmal gewesen, als Jacques zurück nach Frankreich geflogen war. Wo blieb Verena denn nur so lange? Was war denn schon wieder so Wichtiges, dass sie sogar an einem Tag wie diesem zur Uni musste?
Und mit einem Mal geschah etwas sehr, sehr Merkwürdiges: Ich sehnte mich nach Holla. Ich blinzelte einige Male, versuchte, mithilfe von Telepathie Kontakt zu ihr aufzunehmen und sie mir vor meinem inneren Auge vorzustellen. Aber nichts geschah – Holla schien gerade anderes zu tun zu haben.
Als das Telefon klingelte, schrak ich zusammen. »Lieber Gott, lass es bitte nicht das Krankenhaus sein«, flehte ich und stürzte zum Apparat. Aber es war mein Vater, der so gut wie nie anrief, weil wir einander lieber mailten oder chatteten. »Papa!«, schrie ich erleichtert in den Hörer. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so froh gewesen war, seine Stimme zu hören. »Was ist denn los?«, fragte er erschrocken. Ich erzählte ihm, was passiert war. »Das tut mir aber leid«, antwortete Jacques bestürzt. Er mochte Theodora sehr und hatte es ebenso wie ich geliebt, sie zu besuchen und durch den Wald zu streifen. »Kann ich irgendetwas tun? Soll ich nach Hamburg kommen?« Ich überlegte. Ein Teil von mir sehnte sich danach, von ihm umarmt zu werden, nach ein bisschen väterlichem Trost. Doch der andere wusste, dass Verena ein Problem damit haben würde, ihn nach all den Jahren wiederzusehen. Also sagte ich tapfer: »Nein, lass mal. Es geht ihr bestimmt bald wieder besser. Ich grüße sie einfach von dir und bringe in deinem Namen Blumen mit, wenn ich sie besuche. Aber jetzt zu dir. Gibt es einen bestimmten Grund für deinen Anruf?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Jacques, der immer noch nachdenklich klang. »Ich hatte nur plötzlich das Gefühl, du könntest mich brauchen. Also dachte ich, ich melde mich mal.«
Mir wurde sofort warm ums Herz. Papa hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Wie schön, dass wir so einen guten Draht zueinander hatten, obwohl er so weit weg war.
»Geht es dir denn sonst gut? Ich meine außer dieser traurigen Sache mit Theodora? Du klingst insgesamt so bedrückt.«
Ich wollte
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