Küss den Wolf
sich um und ging Richtung Straße, wo sein Wagen parkte. Wehmütig schaute ich ihm hinterher und winkte, auch als er schon längst nicht mehr zu sehen war.
23.
Donnerstag, 21. April – Ein
Krankenbett auf der Intensivstation
Lothar Merseburg konnte es kaum fassen, als die Ärzte ihm sagten, dass er künftig besser nicht mehr alleine leben sollte. Sein Zustand war immer noch kritisch, aber er war immerhin außer Lebensgefahr.
Doch er hatte ein schwaches Herz und daran würde sich in seinem Alter auch nichts mehr ändern. »Suchen Sie sich ein schönes neues Zuhause, wo Sie nicht alleine sind und man sich gut um sie kümmert«, hatte die nette Krankenschwester gesagt und sein Kopfkissen aufgeschüttelt.
Lothar Merseburg war entsetzt.
Er wollte noch nicht zum alten Eisen gehören.
Auf gar keinen Fall würde er sich in einem Heim unter die wehklagenden, zahnlosen Alten begeben, die betäubt mit Medikamenten oder Psychopharmaka teilnahmslos vor sich hin dämmerten und darauf warteten, dass der Tod sie endlich in seine Arme schloss.
Nein, er hatte noch so viel vor!
Er wollte mit seinem Enkel nach Paris fliegen, so wie er es ihm zu Weihnachten versprochen hatte. Er würde ihm all die Orte zeigen, die ihm und seiner Frau damals so viel bedeutet hatten: den Louvre, die Sacré Coeur, die Seine, den Montmartre… Orte, an denen sie gewesen waren, jung und frisch verliebt und noch am Anfang ihres Lebens. Dort hatten sie beschlossen, zu heiraten und eine Familie zu gründen.
So sehr er sich auch danach sehnte, Marie im Himmel wiederzusehen – so wenig eilig hatte er es in Wahrheit damit.
Er würde sein Versprechen halten – und damit basta!
Keiner hatte sich in sein Leben einzumischen und ihm zu sagen, was das Beste für ihn war. Und wenn das nächste Mal etwas Merkwürdiges passierte oder scheinbar nicht mit rechten Dingen zuging, würde er gelassener reagieren. Schließlich war das Skelett auf dem Dachboden, das ihn beinahe zu Tode erschreckt hatte, zum Glück nur aus Plastik gewesen…
24.
Donnerstag, 22. April
»Dreimal dürft ihr raten, wie viele Punkte ich für die Deutschklausur bekommen habe«, sagte Lula und lächelte wie eine Sphinx. »Gar keine?«, riet Tinka scheinbar gelangweilt.
»Sieben?«, schlug ich vor, doch Lula schüttelte den Kopf.
»Fünfzehn?«, warf Jenny in die Runde, schaute dabei jedoch ziemlich skeptisch. Lula grinste wie das berühmte Honigkuchenpferd und nickte stolz. »Wie jetzt? Echt? Fünfzehn Punkte?«, wiederholte ich ungläubig und dachte beschämt an das Ergebnis meiner eigenen Arbeit. Fünf Punkte, totale Katastrophe!
Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie ich Verena beibringen sollte, dass ich ausgerechnet in Deutsch auf ganzer Linie versagt hatte. Auch Jenny und Tinka starrten Lula an wie das achte Weltwunder. »Und woher kommt dieser plötzliche Talentwandel?«, fragte Tinka und sprach damit genau das aus, was wir alle dachten. Gerade in Deutsch war Lula, die äußerst ungern las, nie gut gewesen und hatte Antje Kammerer mit ihrer Ignoranz und ihrem Desinteresse regelmäßig an den Rand des Wahnsinns getrieben. »Ja, da staunt ihr, was?«, bemerkte Lula trocken. Ich registrierte erst jetzt, dass sie heute anders aussah als sonst: Sie hatte ihre blonde Lockenmähne zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, trug kein Make-up und statt der romantischen Blümchenkleider einen schwarzen, ärmellosen Rollkragenpulli.
»Also, Lula, was ist passiert? Bist du jetzt unter die Literaten gegangen? Deinem Outfit nach zu urteilen, könnte man meinen, du liest Jean-Paul Sartre«, fragte Jenny.
»Der kommt als Nächstes. Momentan bin ich vollauf damit beschäftigt, mich weiter mit Goethes Werk auseinanderzusetzen«, erklärte Lula mit derartigem Ernst in der Stimme, dass es mir schwerfiel, nicht in lautes Lachen auszubrechen.
»Sein Werther-Text hat mich so unglaublich berührt, ich kann es kaum in Worte fassen…«, seufzte Lula. »Offenbar konntest du es ja doch«, antwortete Tinka und lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. Leider galt das Lächeln nicht mir…
»Also wow, Hut ab, kann ich da nur sagen. Aber erklär mir bitte trotzdem, weshalb dich gerade Goethe so begeistert. Es gibt ja schon ein paar spannendere Kandidaten, die außerdem auch lesbarer sind.« Tinka ließ nicht locker.
»Aber keiner kann so tief in meine Seele blicken wie er«, schmachtete Lula, jetzt wieder ganz die romantisch Naive. »Was er über Liebeskummer geschrieben hat, darin fühle ich mich
Weitere Kostenlose Bücher