Küss mich Engel
das hässliche Erbe seiner brutalen Kindheit nie losgeworden war. Und nun war auch sie in seinen kalten Schatten geraten, und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. Sie hatte sich nie bewusst vorgestellt, ein Kind mit ihm zu haben, doch irgendwie musste sich der Gedanke in ihr Unterbewusstsein gestohlen haben, denn nun empfand sie eine schmerzliche Leere.
Sie blickte ihn an und sah sein Profil vor dem sich drehenden Karussell in der Ferne. Dieser Gegensatz erfüllte sie mit tiefem Mitgefühl. Die fröhlich bunten Pferdchen mit ihren hölzernen Mähnen schienen alles Unschuldige, Sorglose und Kindliche zu repräsentieren, während Alex mit seinem brütenden Blick und dem leeren Herzen zu den Verdammten gehörte. Die ganze Zeit hatte sie gedacht, sie wäre diejenige, der etwas fehlte, doch er war noch weit schlimmer verwundet worden als sie.
Auf dem Rückweg zum Wohnwagen sprachen sie nicht miteinander, da es nichts gab, das sie hätte sagen können. Tater hatte sich einmal mehr losgerissen und erwartete sie vor dem Trailer. Er trottete heran und trötete leise zur Begrüßung.
»Ich bring ihn zurück«, sagte Alex.
»Ist schon okay, ich mach‘s. Ich muss sowieso eine Weile allein sein.«
Er nickte und rieb sich mit dem Daumen über die Wange, den Blick so hoffnungslos, dass sie es kaum ertragen konnte. Sie wandte sich ab und streichelte Taters Rüssel. »Komm, mein Schatz.«
Sie führte ihn zu den anderen Elefantenbabies und band ihn an, dann nahm sie sich eine alte Wolldecke und breitete sie am Boden neben ihm aus. Als sie sich darauf setzte und die Arme um die Knie schlang, kam Tater zu ihr. Einen Moment lang fürchtete sie schon, er würde auf sie drauftreten, und sie zuckte zusammen, aber statt dessen stellte er seine Vorderbeine rechts und links von ihr auf und ließ seinen Rüssel herunterhängen.
Sie saß in einer warmen Elefantenhöhle. Sie presste die Wange an die rauhe, faltige Haut zwischen seinen Beinen und hörte das kräftige Klopfen seines süßen, verspielten Elefantenherzens. Sie wusste, dass sie eigentlich von dort hätte weggehen sollen, doch obwohl sie unter einer Tonne Elefant begraben saß, fühlte sie sich so geborgen wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Während sie so dort hockte, musste sie an Alex denken und wünschte, er wäre klein genug, um auch hier drunter zu passen, wo sie saß, direkt unter Taters Herz.
15
Alex schlief schon, als Daisy zum Wohnwagen zurückkehrte. Sie zog sich so leise wie möglich aus und schlüpfte dann in eins von seinen T-Shirts. Als sie zur Couch gehen wollte, hörte sie ein heiseres Flüstern.
»Heute nicht, Daisy. Ich brauch dich.«
Sie drehte sich um und blickte in halbgeschlossene Augen, dunkel vor Erregung. Seine Haare waren zerzaust, und sein Goldanhänger funkelte im Mondlicht, das in einem Strahl durchs Rückfenster hereindrang. Sie hörte noch Taters ruhigen Herzschlag, mit dem er ihr seine bedingungslose Liebe geschenkt hatte, und nichts auf der Welt hätte sie dazu bringen können, sich von ihrem Mann abzuwenden.
Diesmal gab es kein Lachen, keine Neckereien. Er nahm sie wild, ja beinahe verzweifelt, und als es vorbei war, zog er sie an sich und ließ sie nicht mehr los. Seine Hand umfing ihre Brust, als sie einschliefen.
Sie kehrte nicht mehr zu ihrem Sofa zurück, weder in der nächsten Nacht noch in der danach. Sie blieb im Bett ihres Mannes und stellte fest, wie sich ihr Herz allmählich mit einem Gefühl anfüllte, das sie sich fürchtete, näher zu betrachten.
Eine Woche später erreichten sie Zentral-New-Jersey, wo sie die Zelte wieder einmal auf einem Schulhof aufschlugen, der diesmal in einem Vorort lag, wo es überall zweistöckige Familienhäuschen mit Garten und Schaukel gab und dem obligatorischen Mini-Van vor der Garage. Auf dem Weg zur Menagerie, wo sie Tater festgemacht hatte, schaute sie noch rasch im roten Waggon vorbei, um noch einige Änderungen in den Futterbestellungen vorzunehmen. Als sie eintrat, saß Jack gerade über ein paar Akten.
Er nickte ihr kurz zu. Sie erwiderte sein Nicken und ging zum Schreibtisch, um sich die benötigten Formulare herauszusuchen. Das Zelltelefon klingelte, und sie ging ran.
»Zirkus Quest.«
»Ich würde gerne Dr. Markov sprechen«, sagte ein Mann mit einem leichten britischen Akzent. »Ist er zufällig da?«
Sie sank in den Schreibtischsessel. »Wen?«
»Dr. Alex Markov.«
Ihr Kopf schwirrte. »Er ist - äh - im Moment grade nicht da. Kann ich was ausrichten?«
Ihre Hand
Weitere Kostenlose Bücher