Küss mich Engel
und ist ein sibirischer Tiger. Sibirische Tiger sind die größten Tiger, die es gibt.«
»Isst er Menschen?« fragte das Engelchen.
»Menschen nicht, aber er frisst Fleisch. Man nennt das Fleischfresser.«
Der kleine Junge neben ihr meldete sich zu Wort. »Mein Hamster frisst Hamsterfutter.«
Daisy lachte.
Die Erzieherin lächelte. »Ich wette, Sie wissen eine Menge über Tiger. Würde es Ihnen etwas ausmachen, den Kindern ein wenig über Sinjun zu erzählen?«
Ein aufgeregtes Kribbeln durchlief sie. »Aber gerne!« Rasch überflog sie im Geiste alles, was sie während ihrer letzten Ausflüge in die Büchereien über diese Tiere gelernt hatte, und wählte die Dinge aus, die die Kinder wohl am leichtesten verstehen würden. »Vor hundert Jahren gab es noch überall auf der Welt Tiger, die in freier Wildbahn lebten, aber jetzt nicht mehr. Die Menschen haben sich auf dem Land der Tiger angesiedelt ...« Sie versuchte, ihre Erklärungen über die allmähliche Ausrottung der Tiger so einfach wie möglich zu halten, und wurde belohnt, indem die Kinder an ihren Lippen hingen.
»Darf man ihn streicheln?« fragte eins.
»Nein. Er ist alt und nicht sehr freundlich und würde nicht verstehen, dass du ihm nicht weh tun willst. Er ist nicht wie ein Hund oder eine Katze.«
Sie beantwortete noch eine Reihe anderer Fragen, darunter eine danach, wann und wie Sinjun Gassi ging, was allgemeines Kichern hervorrief. Ein Kind erzählte ihr, wie sein Hund gestorben war, und ein anderes verkündete, dass es gerade die Windpocken überstanden hätte. Sie waren so süß, dass sie am liebsten den ganzen Tag mit ihnen verbracht hätte.
Als sich die Gruppe zum Weitergehen bereit machte, bedankte sich die Erzieherin überschwenglich bei ihr, und das dicke Engelchen im rosa Overall umarmte sie stürmisch. Daisy schwebte auf Wolken.
Sie blickte ihnen noch nach, während sie zum Wohnwagen zurückging, um sich rasch etwas zum Mittagessen zu machen. Da sah sie eine ihr vertraute Gestalt in dunkelbrauner Hose und blassgelbem Polohemd aus dem roten Waggon auftauchen. Wie vom Donner gerührt, blieb sie stehen. Gleichzeitig wurde sie sich ihrer schmutzigen Arbeitskleidung und ihres zerzausten Haars bewusst, das unter Glennas letzter Entlausungsaktion gelitten hatte.
»Hallo, Theodosia.«
»Dad? Was tust du denn hier?« Ihr Vater war in ihrer Vorstellung eine derart machtvolle Figur, dass ihr nur selten auffiel, dass er von eher zierlichem Wuchs war, kaum größer als sie. Er trug die Insignien des Wohlstands mit Leichtigkeit: silbergraues Haar, exzellent getrimmt von einem Friseur, der einmal die Woche in seinem Büro vorbeikam, sündteure, aber dezente Armbanduhr, konservative italienische Lederschuhe mit einer diskreten Goldschnalle. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass er je lange genug seine Würde außer acht gelassen hatte, um sich in ein Fotomodell zu verlieben und ein illegitimes Kind zu zeugen, aber sie war der lebende Beweis dafür, dass ihr Vater wenigstens einmal in seinem Leben menschlich gewesen war.
»Ich kam her, um Alex einen Besuch abzustatten.«
»Ach.« Sie versuchte, so gut sie konnte, zu verbergen, wie weh es ihr tat, dass er nicht wegen ihr gekommen war.
»Außerdem wollte ich nach dir sehen.«
»Wirklich?«
»Ich wollte sehen, ob du immer noch bei ihm bist. Dass du nicht irgendwelche Dummheiten angestellt hast.«
Einen Moment lang überlegte sie, ob Alex ihm wohl von dem gestohlenen Geld erzählt hatte, aber dann wusste sie, dass er das nicht tun würde. Dabei wurde ihr warm ums Herz.
»Wie du sehen kannst, bin ich immer noch hier. Wenn du mich zum Wohnwagen begleitest, kann ich dir was zu trinken anbieten. Oder ich mach dir ein Sandwich, falls du hungrig bist.«
»Eine Tasse Tee wäre nett.«
Sie führte ihn zum Wohnwagen. Er blieb stehen, als er sah, wie heruntergekommen er aussah. »Ach du meine Güte. Sag bloß nicht, dass du da drin lebst.«
Sie empfand das seltsame Bedürfnis, ihr Heim vor ihm zu verteidigen. »Drinnen sieht‘s nicht so schlimm aus. Ich hab die Einrichtung ein wenig verbessert.«
Sie machte die Tür auf und ließ ihn herein, doch trotz der Veränderungen, die sie vorgenommen hatte, war er vom Innern ebensowenig beeindruckt wie vom Äußeren. »Alex könnte sich wahrhaftig etwas Besseres als dies hier leisten.«
Eigenartigerweise trieb sie seine Kritik in die Defensive. »Für uns reicht‘s.«
Sein Blick verharrte einen Moment lang auf dem einzigen Bett. Sie hoffte, dass ihn
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