Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
seinem Standpunkt aus tatsächlich einen triftigen Grund zur Besorgnis.« Annas sonst so heitere Gesichtszüge verrieten eine gewisse Anspannung. »Ich weiß nicht so genau, wie er es herausgefunden hat. Vielleicht hatte ich im letzten Frühjahr, als seine Mutter ihn bat, einige Möbel für mich umzustellen, irgendetwas auf meinem Schreibtisch offen herumliegen lassen – ein Foto oder einen Brief oder einen meiner Notizblöcke -, worauf er bei dieser Gelegenheit gestoßen ist.«
Gillian runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz.«
»Meine privaten Andenken.« Die ältere Frau ließ ihre Hand nicht los. »Würdest du bitte mitkommen? Es gibt da etwas, das ich dir zeigen möchte. Etwas, das ich dir zeigen muss.«
»Natürlich.« Gillian bot Anna einen Arm als Stütze an. Sie gingen in den rückwärtigen Teil des Hauses und betraten ein gemütliches kleines Zimmer, das angefüllt war mit Andenken von Klavierkonzerten, Tourneen und Reisen in alle Teile der Welt.
An einer Wand stand eine wunderschöne orientalische Truhe mit einem kunstvoll verzierten Messingschloss.
»Der Schlüssel liegt in der rechten oberen Schreibtischschublade ziemlich weit hinten. Er hängt an einer goldenen Kette. Könntest du mir bitte einen Sessel heranziehen, bevor du die Truhe aufschließt?«
Gillian tat ihrer Freundin gerne den Gefallen und sorgte dafür, dass Anna erst bequem saß, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte, ihn vorsichtig umdrehte und den Deckel hochklappte. Die Truhe barg Dutzende von Fotoalben, mit einem farbigen Schmuckband fein säuberlich zusammengebundene Briefstapel und jede Menge Ordner, die vorne auf dem Deckel mit Jahreszahlen beschriftet waren. Auf Annas Geheiß nahm Gillian das oberste Album heraus und schlug es auf. Ihr eigenes Gesicht blickte ihr entgegen. Das Foto war offensichtlich erst kürzlich aufgenommen worden.
»Ich hoffe, du verstehst, was ich dir gleich erzählen werde, und ich hoffe, du kannst mir verzeihen, Gillian … uns allen verzeihen, dass wir es dir nicht schon früher erzählt haben.« Nicht nur Annas Hände, auch ihre Stimme zitterte. »Dein Vater hatte vor, dir die Geschichte in allen Einzelheiten zu erzählen, wenn du ein bisschen älter wärst. Aber dann kamen er und Elise bei einem Verkehrsunfall auf tragische Weise ums Leben, und deine Großeltern taten das, was sie für das Beste hielten.« Anna konnte nicht weiterreden. Sie atmete ein paar Mal tief durch, um ihre Fassung wiederzugewinnen. »Ich glaube«, fuhr sie schließlich fort, »Jacob und Emily konnten den Gedanken nicht ertragen, dir emotional noch mehr zuzumuten beziehungsweise dir noch weiteren Schmerz zuzufügen. Du hattest in deinen jungen Jahren schon so viel durchmachen müssen. Ich musste mich ihren Wünschen natürlich beugen. Das war Teil unserer Abmachung.«
Gillian griff nach einem Briefstapel mit einem blauen Bändchen. Als Absender war die Adresse ihres Familiensitzes in Manhattan angegeben; bei der Adresse erkannte sie die vertraute elegante Handschrift ihrer Großmutter.
Anna verschränkte die Hände in ihrem Schoß. »Über all die Jahre hinweg schrieb Emily mir regelmäßig und hielt mich auf dem Laufenden über alles, was tagtäglich so passierte. Sie berichtete mir, was Edward in der Schule machte, welchen Sport er ausübte, welche Fortschritte er beim Klavierunterricht machte, eben all die kleinen Details, die das Leben ausmachen. Dasselbe tat sie später auch in Bezug auf dich.«
Gillian wurde es immer mulmiger zumute. Ein leiser Verdacht nahm langsam Gestalt an, allerdings noch so vage, dass sie ihn noch nicht in Worte hätte fassen können.
»Letztes Jahr im Winter wurde Jacob aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit plötzlich bewusst, dass du möglicherweise bald allein dastehen würdest. Ich meinerseits war auch allein. Ich habe zwar Freunde, aber keine Familie. Er dachte, wir beide sollten die Gelegenheit, die Chance haben, uns kennen zu lernen.«
Gillians Herz schlug plötzlich schneller. »Er hat es ganz bewusst dir überlassen.«
»Ja.« In ihren Augen glitzerten Tränen. »Ich glaube, der Grund dafür war, dass ich deinen Vater einmal getroffen habe. Es war Emilys Idee. Sie machte den Vorschlag in bester Absicht – sie hatte immer nur die besten Absichten -, aber es war eine Katastrophe.«
»Warum?«
»Edward war an die dreißig und mit einer reizenden jungen Frau verlobt, die er zu heiraten gedachte. Sie hieß Elise. Er besuchte mich in meinem Hotel – ich war, bevor ich
Weitere Kostenlose Bücher