Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
Plötzlich ertönte ein Gewitter von Akkorden, gefolgt von einem Piano, das wie ein Flüstern durch die Nacht schwebte, bevor die Musik wieder anschwoll und den Zuhörer zu einer Pause führte.
Diese Musik war das genaue Gegenteil von Mozart. Sie war groß, gewaltig, emotional, slawisch, vielleicht russisch. Für Tschaikowsky, spekulierte Sam, war sie zu modern. Der einzige weitere russische Komponist, der ihm im Moment noch namentlich einfiel, war Rachmaninow.
Während er in der Dunkelheit so dastand und Gillians Spiel lauschte, ging ihm durch den Kopf, welch physischer Anstrengung und emotionaler Kraft – ganz zu schweigen natürlich von einer Riesenportion Talent – es bedurfte, um Musik so zu spielen, wie sie es tat.
Ihm kam auch der Gedanke, dass vielleicht doch kein Eiswasser durch ihre Adern floss. Vielleicht versteckte sich unter all der Politur und all der guten Erziehung eine fühlende, sensible Frau mit ganz normalem rotem Blut in den Adern.
Die Musik verebbte in einem gedämpften Schlussakkord.
Dann war Stille.
Sam merkte, dass er den Atem anhielt. Er atmete aus und sah, dass es im Wohnzimmer dunkel wurde. Doch erst als er die Lichter oben angehen sah, stieg er endlich in den Wagen und fuhr die Straße hinunter zum Haus seiner Eltern.
Kapitel 9
»Ich weiß, was du vorhast, Jacob Charles«, murmelte Anna Rogozinski vor sich hin, als sie den Hörer auflegte.
Anna angelte sich ihren Stock, um aufzustehen, und ging dann langsam nach draußen auf die vordere Veranda. Die Fliegentür fiel hinter ihr ins Schloss.
Es war ein schöner Maimorgen. So schön, wie sie ihn seit Urzeiten nicht mehr in Sweetheart erlebt hatte. Die Tulpen in ihren sorgfältig gepflegten Beeten standen in voller Blüte. Die Luft war getränkt vom Duft des Flieders, des Geißblatts und der blühenden Bartlett-Birne neben der Veranda. Die Sonne stand schon hoch, ein gleißender gelber Ball am wolkenlosen blauen Himmel.
Die Welt schien an einem solchen Morgen so friedlich, aber in ihr brodelten die Gefühle; und die Gedanken, die ihr wild durch den Kopf schossen, waren alles andere als friedlich.
Sie ließ ihre arthritischen Glieder vorsichtig auf einen gepolsterten Stuhl sinken, stellte ihren Stock in Reichweite neben sich ab und machte es sich bequem. Sie griff nach der Teetasse, die sie zurückgelassen hatte, um das Telefongespräch anzunehmen, und trank einen Schluck. »Natürlich kalt.«
Anna seufzte und stellte die zarte Porzellantasse wieder auf den Tisch zurück. Es gab nichts, was sie mehr verabscheute als lauwarmen Tee. Zu schade, dass Esther ihren freien Tag hatte. Doch vielleicht konnte sie sich ja jetzt, da sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, auch selbst eine frische Kanne aufbrühen.
Himmel, was machte sie sich da bloß vor? Wen glaubte sie damit hinters Licht führen zu können? Nein, sie war keineswegs ruhig. Sie war nervös und aufgeregt.
Anna betastete ihr Gesicht. Ihre Wangen glühten. Ihre Hände zitterten. Sie zitterte. Ihr Herz pochte wie wild, und das Atmen fiel ihr irgendwie schwer.
»Es ist lächerlich, sich in deinem Alter so aufzuregen«, schimpfte sie mit sich. Sie war zu alt, und sie hatte in ihren einundachtzig Jahren zu viel erlebt, um in so einer Situation Schmetterlinge im Bauch zu haben.
Allerdings hatte sie, wenn sie jetzt so darüber nachdachte, auch jedes Mal Lampenfieber vor einem Konzert gehabt.
Sie erinnerte sich, dass sie bei ihrer ersten Welttournee gelernt hatte, am Abend der Vorstellung das Abendessen auszulassen und sich nur eine halbe Tasse schwachen Tee zu genehmigen. Alles darüber hinaus konnte zu einem Desaster führen, sie zumindest aber in schwere Verlegenheit bringen. Man sprang schließlich nicht mitten in einer Sonate von Mozart auf und entschuldigte sich mit einer hastigen Verbeugung beim Publikum mit den Worten: »Das Andante verzögert sich leider um fünf Minuten, weil Miss Rogozinski der Toilette einen unvorhergesehenen Besuch abstatten muss.«
Diese Vorstellung nötigte Anna ein Lächeln ab.
Dann kehrten ihre Gedanken langsam wieder in die Gegenwart zurück und wandten sich Jacob Charles zu.
»Du bist unbeirrbar immer deinen eigenen Weg gegangen, nicht wahr, Jacob?«, sagte sie laut, da niemand da war, der sie hören konnte. »Du musstest stets die Kontrolle haben.« Anna seufzte wieder aus tiefstem Herzen. »Nun, jetzt hat es sich selbst für dich auskontrolliert.«
Anna genoss das warme Bad in der Morgensonne und schloss die Augen. Eine sanfte
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