Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
meine Wahrheit, auf die allein ich bau, bevor ich alt und grau bin und dermals scheide hin.‹«
»Das klingt nach einem alten Trinklied.«
Er nickte. »Es ist auch Yeats.«
»Kennen Sie noch mehr Weisheiten zu diesem Thema?«
»›Wein ist das Guckloch in einen Menschen.‹«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Wer in aller Welt hat so etwas gesagt?«
»Alcaeus. Ungefähr 500 Jahre vor Christus.« Sam hatte noch mehr auf Lager. »›Was ist der Mensch anderes als eine geniale Maschine zur Verwandlung von Wein in Urin?‹« Er räusperte sich. »Um es mit den unsterblichen Worten von Isak Dinesen auszudrücken.« Er gab ein kehliges Geräusch – halb Glucksen, halb Lachen – von sich. »Nur ein paar Kostproben von den vielen relativ nutzlosen Dingen, die ich bei Mrs. Longerboner in der elften Klasse Englisch gelernt habe.«
Gillian verkniff sich ein Lachen. »Mrs. Longerboner?«
Er kippte den Stuhl nach hinten und balancierte auf zwei Stuhlbeinen. »Mrs. Dick Longerboner, geborene Alice Adcock.«
»O Gott.« Gillian musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht loszuprusten. Schließlich gelang es ihr, das Lachen hinunterzuschlucken. »Arme Alice.«
Sie saßen in dieser lächerlich rosa Küche und lachten – es tat so verdammt gut, zu lachen, wurde Gillian bewusst – und schwatzten und tranken den letzten Rest Wein.
Von draußen drangen vertraute Geräusche zu ihnen herein: Jungen, die auf ihren Fahrrädern vorbeiradelten und einander etwas zuriefen; der Sound eines laufenden Motors, eine Tür, die in der Nähe zugeknallt wurde, und in der Ferne das Bellen eines Hundes.
Dann hörten sie ein Auto – möglicherweise ein Jeep oder ein Pick-up – langsam die Straße herunterkommen. Plötzlich ein dumpfer Knall – irgendetwas war gegen die Haustür geflogen; sie hörten, wie ein Motor aufjaulte und der Wagen mit quietschenden Reifen wieder davonbrauste.
Max spitzte die Ohren in Alarmbereitschaft und schlug an.
»Was mag das gewesen sein«, fragte Gillian und schob ihren Stuhl zurück.
Sam hielt sie mit erhobener Hand zurück. »Ich gehe nachschauen. Warum bleiben Sie nicht hier und halten Max ruhig?«
Kapitel 14
»Verdammt«, fluchte Sam vor sich hin. Er war zwar ziemlich schnell gewesen – seine alten Quarterback-Instinkte waren noch nicht gänzlich verkümmert -, aber der davonschießende Wagen war schneller gewesen. Bis er die Haustür erreicht hatte und über die Veranda gesprintet war, fehlte von dem Auto bereits jede Spur. Er kannte weder die Autonummer noch die Farbe des Autos noch das Modell. Nichts.
Er sah sich nach eventuellen Zeugen um. Soweit er sehen konnte, gab es keine. In einer Stadt, wo jeder es sich zur Aufgabe gemacht hatte, über das Tun und Lassen eines jeden Bescheid zu wissen, war es geradezu eine Ironie des Schicksals, dass nicht eine Menschenseele aus seiner Straße da war, wenn er sie brauchte.
Murphys Gesetz in einer ganz speziellen Variante. Sam war überzeugt, dass Gott nicht nur eine Vorliebe für Ironie, sondern auch einen etwas seltsamen Sinn für Humor hatte.
Was hatte denn nun den dumpfen Knall verursacht? Was war gegen das Haus geflogen?
Er begann das Terrain systematisch abzusuchen. Schließlich wurde er in der dunkelsten Ecke der Veranda, die von der Deckenbeleuchtung nur schwach ausgeleuchtet war, fündig. Es war ein altmodischer, brauner, verdreckter Sack aus grobem Sackleinen, der oben mit einem Stück Paketschnur zugebunden war. Der Sack war mit einem großen Stein beschwert – zweifellos, um ihm das nötige Gewicht zu geben, dass er die Haustür erreichte. Von der Straße bis dorthin waren es immerhin an die fünf Meter.
Sam hielt den Sack gegen das Licht, schnürte ihn auf und spähte hinein. Dann kippte er den Inhalt auf die Veranda.
Es war ein Vogel.
Ein toter Vogel.
Eine sehr große, sehr tote schwarze Krähe. Sie war mit mindestens einem halben Meter Länge für eine Krähe sogar extrem groß. Es handelte sich um die gewöhnliche, in Amerika beheimatete Krähe Corvus brachyrhynchos , verwandt mit dem Raben und dem Eichelhäher, die zur Familie der Corvidäen gehören und den Passeriformes zuzuordnen sind (noch so eine nutzlose Sache, die er bei Mrs. Longerboner gelernt hatte, damals wie heute Präsidentin der örtlichen Audubon-Gesellschaft).
Er hatte in seinem Leben hunderte, ja tausende von Krähen gesehen, Riesenkrähenschwärme, die sich auf Farmen und auf offenen Feldern niedergelassen hatten. Jene Vögel waren natürlich äußerst
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