Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
lebendig gewesen, doch diesen hier hatte eine Kugel mitten durchs Herz getroffen. Wer auch immer das gewesen war, der tödliche Schuss war mit einem Kleinkalibergewehr abgegeben worden.
Sam wippte auf seinen Absätzen nach hinten.
War der tote Vogel auf seiner Veranda nur der dumme Streich eines Witzbolds? Er fand derartige Streiche überhaupt nicht witzig, sondern einfach nur dumm.
Vielleicht war es ja wirklich nur ein Schabernack, ein Schabernack von der Art, auf die Punks möglicherweise stehen. Punks wie die großmäuligen Teenager, denen er an diesem Nachmittag an der Tankstelle begegnet war.
Oder versuchte jemand Gillian eine alles andere als dezente Botschaft zukommen zu lassen? Wollte man ihr damit mitteilen, dass sie hier nichts zu suchen hätte und möglichst schnell dorthin verschwinden sollte, woher sie gekommen war? Wenn dem so war, dann war dies die zweite Aufforderung innerhalb von nur zwei Tagen.
Er war sich sehr wohl bewusst, dass es gleich mehrere Gründe gab, etwas gegen Sweethearts neue Einwohnerin zu haben. Sie war eine Fremde. Sie war eine Großstädterin. Sie war schön, reich und schlank. Und sie hatte den größten Teil der Stadt geerbt. Jeder dieser Punkte war ein Nährboden für Animositäten.
Heute hätte Jacob ebenfalls keinen Popularitätswettbewerb mehr gewinnen können. Nicht, nachdem er damit begonnen hatte, die Grundstücke und Immobilien rundum aufzukaufen. Dabei hatte er einer Menge Leute das Geschäft gerettet oder zumindest ihren Job, manchmal auch ihre Existenz. Aber das übersah man leicht.
Auf der anderen Seite könnte der tote Vogel auch ihm gegolten haben. Krähen waren bei ihrem Futter nicht zimperlich. Sie waren regelrechte Allesfresser, die alles runterschlangen, was ihnen vor den Schnabel kam: andere Vögel, Insekten, kleine Reptilien, überfahrene Tiere, Aas, ja sogar Feldfrüchte. Vor allem Feldfrüchte. Die Farmer hassten sie wie die Pest und schossen manchmal auf sie, um ihre Felder vor der Verwüstung durch Krähen zu schützen.
Manche Leute in Sweetheart hatten eine ähnlich geringe Meinung auch von Anwälten. Für sie war jeder Anwalt ein Mensch, der aus dem Unglück anderer Kapital schlug und sich das Herumwühlen im Dreck anderer Leute teuer bezahlen ließ. Dann gab es da die Unzufriedenen – kein Anwalt konnte das verhindern. Sheila, Max’ frühere Besitzerin, gehörte auch dazu.
Und die Abgewiesenen; jene potenziellen Klienten, die er aus verschiedenen Gründen nicht vertreten wollte. Seit dem infamen Fall mit Max nahm er zum Beispiel keine Scheidungen mehr an. Scheidungen waren in seinen Augen Fälle, aus denen niemand als Gewinner hervorgehen konnte. Seit dem Dunbar-Zwischenfall lehnte er es auch ab, Straftäter zu verteidigen. Und außerdem vertraute er immer seinen Instinkten. Manche Leute versprachen von Anfang an nur Ärger.
»Etwas gefunden?«
Sam drehte sich um und blickte über die Schulter. Gillian stand mit Max an ihrer Seite in der Tür. Ihre Hand ruhte locker auf dem Kopf des Schäferhundes. Sie wirkte absolut ruhig. Max ebenfalls. »Es ist ein Vogel.«
»Was für ein Vogel?«
»Eine gewöhnliche Krähe.«
»Das ist dasselbe wie ein Rabe, oder?«
Er zuckte die Schultern. »Mehr oder weniger. Er gehört zumindest evolutionsmäßig zur selben Familie.«
Völlig unerwartet streckte Gillian plötzlich theatralisch die Hand vor und begann zu deklamieren: »›Nimm dein’ Schnabel fort vom Herzen, mach dich fort von meiner Tür!‹« Sie senkte ihre Stimme: »›Krächzt der Rabe: Nimmermehr. ‹«
»Edgar Alan Poe.«
»Ich musste Poes ›Raben‹ in der vierten Klasse im Literaturunterricht bei Miss Spade auswendig lernen.«
» Vierte Klasse Literaturunterricht?«
»Für Eltern, die im Jahr zwanzigtausend Dollar und mehr Schulgeld bezahlen, hörte sich das doch mit Sicherheit besser an als vierte Klasse Lesen«, erklärte sie.
Sam grinste. »›Mit dem Raben gleicht Poe einem Barnaby Rudge, drei Fünftel genial und zwei Fünftel irrer Quatsch.‹ James Russell Lowell. Schulbildung der guten alten öffentlichen Schule Marke Sweetheart, Indiana.«
Sie lachte. »Das hätte ich wissen müssen.«
»Was?«
»Dass Sie noch eins draufsetzen können.« Gillian reckte den Hals. »Ist die Krähe verletzt?«
»Sie ist tot.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Haben Sie den Puls gefühlt?«
Das hatte er in der Tat nicht getan.
Da er sie jedoch nicht unnötig alarmieren wollte, entschloss er sich, seine Antwort ein wenig zu frisieren.
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