Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
zu können. Aber sie hatte nur Augen für Jacob Charles, ihren groß gewachsenen, gut aussehenden Helden in seiner schicken Offiziersuniform.
Jacob faszinierte sie. Er war schon überall in der Welt gewesen und kannte jeden. Er bewegte sich frei und ungezwungen in der New Yorker und Londoner Gesellschaft. Er besuchte die Oper und das Ballett auf beiden Seiten des Atlantiks, machte Schenkungen an Museen und unterstützte Wohltätigkeitsgalas. Außerdem sprach er außer Englisch noch vier weitere Sprachen fließend. Er hatte in Oxford studiert und war einen Sommer lang durch Italien getrampt, um Land und Leute, ihre Lebensart, ihre Küche und ihre Weinkultur kennen zu lernen.
Er hatte all die Dinge gemacht, von denen sie nur geträumt hatte. So schien es ihr zumindest. Mit ihren achtzehn Jahren war Anna Rogozinski nie weiter als von zu Hause nach Chicago gereist. Und selbst diese Reise hatte sie nur aus Anlass eines Klaviervorspiels unternommen, wobei sie ständig unter der Obhut ihres Klavierlehrers und ihrer Eltern gestanden hatte.
Jacob war offen und ehrlich zu ihr gewesen. Er hatte ihr von Anfang an erklärt, dass er zu Hause in New York mit einem Mädchen verlobt war. Und sie hatte ihm gesagt, dass ihr das völlig egal war. Sie hatte sich vorgenommen, die größte Pianistin ihrer Generation zu werden. Nach dem Krieg war sie auf Welttournee gegangen und in jeder größeren Stadt und in jeder berühmten Konzerthalle aufgetreten. Sie hatte nie die Absicht gehabt, jemanden zu heiraten.
Beide waren ihrem Wort treu geblieben.
Und dennoch. Manchmal, wenn sie abends im Bett lag, fragte Anna sich – schon mehr oder weniger im Halbschlaf -, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte, wenn ihre Leidenschaft einem Mann gegolten hätte und nicht der Musik.
Es war natürlich immer nur ein kurzer Gedanke, der auch sogleich wieder verschwand. Dem Leben nachzutrauern war etwas für labile Leute mit schwachem Willen. Sie hingegen war mental stark und verfügte über einen eisernen Willen.
Dann dachte sie immer an die letzten Worte, die Jacob zu ihr gesagt hatte, bevor er an jenem Tag in den Zug nach Osten gestiegen war. »Wasser vom Mond, Anna. Das bin ich für dich, und das bist du für mich.«
»Wasser vom Mond«, hatte sie wiederholt. »Das klingt schön, aber was bedeutet das?«
»Es bedeutet etwas, das wir nie besitzen können.«
Dann hatte er sie auf dem Bahnhof direkt vor den Augen von halb Sweetheart geküsst. Sie hatte seinen Kuss erwidert und war dann auf dem Bahnsteig zurückgeblieben; hatte dem Zug nachgesehen, bis er verschwunden war.
Sie hatte vergessen zu winken und sich geweigert zu weinen.
Anna strich sich mit einer Hand über die Wangen. Sie war sich vage bewusst, dass ihr Gesicht und das Kopfkissen tränennass waren.
Wasser vom Mond.
»Du dumme alte Närrin«, murmelte sie vor sich hin. »Für Tränen ist es jetzt zu spät.«
Kapitel 20
Niemand war zu Hause. Niemand außer dem verdammten Köter. Die meisten Leute aus der Stadt waren noch beim Tanz. Als er an der Türklinke der Hintertür rüttelte, begann der Hund sofort zu bellen. Es bedurfte keines großen Aufwands und keiner besonderen Geschicklichkeit, um die Tür aufzubekommen. Das Schloss war alt. Mit einem gewöhnlichen Dietrich und einem bisschen Glück war es ein Kinderspiel.
Seitdem der Eindringling das letzte Mal in dem Haus gewesen war, hatte sich nicht viel verändert. Zumindest in der Waschküche und in der Küche nicht. Die Wände waren immer noch in demselben ekligen Rosa gestrichen, der Boden immer noch mit demselben fleckigen Linoleum ausgelegt. Dieselbe alte Küchentheke und sogar derselbe Tisch mit denselben Stühlen. Manche Dinge änderten sich nie.
Der Hund hörte nicht auf zu bellen. Zum Glück kläffte in Sweetheart immer irgendwo ein Hund. Dennoch würde es ihm die Arbeit sehr erleichtern, und er wäre auch schneller fertig, wenn das Vieh ihm ein paar Minuten von den Füßen wäre. Er lockte das Tier mit einem saftigen Knochen, den er extra für diesen Fall mitgebracht hatte, nach draußen und blockierte die Hundeklappe mit einem Stuhl.
Es wurde Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
Es war Vollmond, was einerseits gut, andererseits aber auch schlecht war.
Schlecht, weil der Eindringling – selbst in seiner Tarnkleidung – für einen Nachbarn, falls er zufällig aus dem Fenster gesehen hätte, gut erkennbar gewesen wäre, als er sich durch den Garten zum Haus hochschlich.
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