Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
Insektenpulver im Tee gab es keinen einzigen Beweis dafür, dass jemand im Haus gewesen war. Keine Fingerabdrücke; keine Zwischenfälle; nichts verrückt, alles an Ort und Stelle.
Sein hämischer Gesichtsausdruck ging in ein groteskes Grinsen über.
Niemand würde je erfahren, von wem oder warum, ja nicht einmal wann Miss Charles vergiftet worden war.
Kapitel 21
Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte zwei Uhr fünfundvierzig an – es war mitten in der Nacht. Gillian wälzte sich unruhig hin und her und boxte in ihr Kissen. Das ging nun schon seit Mitternacht so. Das Gespenst der Schlaflosigkeit zeigte wieder einmal seine hässliche Fratze.
Ein Freund von ihr, der Psychologe war, hatte ihr einmal gesagt, dass Schlaflosigkeit nichts weiter sei als eine schlechte Angewohnheit. Wenn er Recht hatte, dann war ihr, wie den meisten schlechten Angewohnheiten, nur schwer beizukommen.
Letztlich war Gillian sich gar nicht so sicher, was schlimmer war: stundenlang im Bett zu liegen und ins Dunkel zu starren, unfähig einzuschlafen, oder einzuschlafen und Albträume zu haben, aus denen sie erwachte, als wäre sie kopfüber in die Fluten eines eisigen Sees eingetaucht.
Dann schreckte sie jedes Mal mit rasendem Herzklopfen hoch, die Haare, der Pyjama und der Körper klatschnass von kaltem Angstschweiß. Nach Atem ringend, hatte sie dabei stets das Gefühl, als zerberste ihr Körper, als bekäme sie keine Luft mehr und müsste ersticken.
In ihren dunklen Träumen, wie sie sie nannte, rannte sie immer vor irgendjemandem, vor irgend etwas , davon. Sie hörte Schritte, die sich bedrohlich an ihre Fersen hefteten, spürte in ihrem Nacken einen Hauch, den Atem von jemandem, von etwas , das ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
Sie versuchte sich umzudrehen, um zu sehen, wer oder was sie verfolgte, um dem Furcht erregenden Unbekannten endlich ein Gesicht oder einen Namen zu geben, aber genau in diesem Augenblick wachte sie jedes Mal auf.
Gillian wusste wenig über Traumdeutung. Wenn man gejagt wurde, standen dahinter wahrscheinlich irgendwelche Ängste und Sorgen oder sonstiger Stress. Im wachen Zustand war Weglaufen die instinktive Reaktion auf eine physische Bedrohung, der Fluchtreflex, der sich über hunderttausende von Jahren im Menschen entwickelt hatte, und zwar mit gutem Grund: Er bedeutete wahrscheinlich den Unterschied zwischen Überleben und Aussterben. Sie wusste nur nicht recht, ob das auch für Träume galt.
Sie hatte vor kurzem in einem Lokalsender des öffentlichen Fernsehens eine Dokumentation über Träume gesehen. Eine Theorie besagte, dass während der REM-Schlafphase Neuronen abgefeuert würden, die zufällige Erinnerungsfetzen zu Träumen zusammensetzten, so ähnlich wie wenn man Stoffreste zu einer verrückten Patchwork-Decke zusammennäht. Hier ein Flicken und dort ein Flicken – ohne Muster, ohne innere Logik und ohne tiefere Bedeutung und folglich auch ungeeignet für irgendwelche Interpretationen.
Natürlich gab es da auch noch ihre anderen Träume.
In diesen Träumen hielt ein Mann sie in den Armen, küsste sie, liebkoste sie und schlief mit ihr. Sie hatte nie sein Gesicht gesehen, und sie hatte nie gewusst, wer er war. Das wusste sie erst seit ein paar Wochen, seit dem Abend des Gemeindefestes, seit dem Abend, als sie sich im Park geküsst hatten – das Gesicht in ihren Träumen war Sams Gesicht.
»Großer Gott, jetzt träumst du tatsächlich schon von deinem Anwalt.« Gillian bearbeitete ihr Kissen erneut mit einem kräftigen Boxhieb. »Kein Mensch träumt von seinem Anwalt. Es sei denn Albträume, aber sexuelle Träume – nein.« Sie brach in ein selbstironisches Lachen aus, das eigenartig hohl von den Wänden ihres Schlafzimmers widerhallte. Der an ihrem Fußende schlafende Hund hob den Kopf und starrte sie mit seinen großen, glänzend schwarzen Augen an. »Sorry, Max.«
Der Schäferhund stieß einen tiefen Seufzer aus – bis zu ihrer Begegnung mit Max hatte sie nicht gewusst, dass Hunde überhaupt seufzen konnten – und legte den Kopf auf ihren Oberschenkel. Gillian streckte die Hand aus und kraulte ihn hinter den Ohren.
Wenn man hellwach im Bett lag, während die übrige Welt in tiefem Schlummer lag, fühlte man sich lange nicht so einsam und verängstigt, wenn jemand da war, mit dem man sein Leid teilen konnte. Mehr denn je wünschte sich Gillian, sie hätte als kleines Mädchen einen Hund gehabt, vor allem damals, in der schwierigen Zeit, nachdem ihre Eltern ums Leben
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