Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
Glücklicherweise war die alte Ziege, die gegenüber wohnte, noch nicht vom Ball zurück. Allerdings hatte sie selbst mit ihrem Fernglas keinen ungehinderten Blick auf die Hintertür.
Gut war, dass die Küche vom Mond hell erleuchtet wurde, sodass er seinen Job ohne Taschenlampe erledigen konnte.
Der Eindringling stand mitten im Raum. Er öffnete einen Schrank nach dem anderen, zog hintereinander alle Schubladen heraus und inspizierte den Inhalt. Erfahrung war dabei alles. Übung macht den Meister. Es gab eine richtige und eine falsche Vorgehensmethode.
Schließlich wurde die Aufmerksamkeit des ungebetenen Gastes auf eine kleine Zellophantüte gelenkt. Er hielt sie in den Mondschein. Vorne befand sich ein Aufkleber mit Druckbuchstaben.
»Sweet Dreams«, las er laut. »Was, zum Teufel, ist Sweet Dreams?«
Die Tüte war oben umgeschlagen und mit einem Plastikclip gesichert. Er löste den Clip ganz vorsichtig und legte ihn auf die Küchentheke. Das Knistern beim Öffnen der Tüte schien durch das ganze Haus zu hallen, nachdem sich der Hund auf einmal entschlossen hatte, mit dem Bellen aufzuhören.
Der Eindringling erstarrte für einen kurzen Moment und roch dann an dem Inhalt.
Tee?
Es roch jedenfalls nach Tee, Tee mit irgendeinem Zusatz. Vielleicht war es eine dieser ominösen Teemischungen. Oder es war einer dieser Kräutertees, die Minerva in der ganzen Stadt verkaufte.
Der Tee roch schon merkwürdig, vielleicht sah er ja auch merkwürdig aus. Er schüttete sich ein kleines Häufchen in die behandschuhte Hand.
»Bingo, das ist es«, flüsterte er zufrieden.
Die alte Uhr im Flur schlug Viertel nach. Es war schon spät, bereits nach Mitternacht. Es war höchste Eisenbahn, die Sache zu Ende zu bringen und schleunigst abzuhauen.
Er ließ den Tee zurück in die Tüte rieseln, holte ein kleines Päckchen aus der Tasche, riss es auf und schüttete den Inhalt dazu. Im Geschirrständer neben der Spüle lag ein Messer. Damit mischte er das Ganze ordentlich, sodass die winzigen Kristalle nicht weiter auffielen. Anschließend faltete er die Tüte sorgfältig wieder zu, verschloss sie mit dem Plastikclip und legte sie in den Schrank an ihren Platz zurück. Das leere Päckchen stopfte er sich wieder in seine Hemdtasche. Das Messer wischte er an einem Hosenbein ab und legte es in das Trockengitter zurück.
In der vom Mond erleuchteten Küche konnte man ein leises Kichern hören.
Alles in allem war es gar nicht so schwer gewesen, ein bisschen Insektenpulver irgendwo unterzumischen. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass es jemand bemerken würde, bevor es zu spät war. Die nötige Dosis hatte er geschätzt. Sie könnte davon krank werden, richtig krank. Alles, was er jetzt noch tun musste, war abwarten und sehen, was passierte.
Jemanden zu vergiften erforderte eine Menge Geduld. Es könnte einen Tag oder eine Woche oder vielleicht sogar noch länger dauern, bis Miss Charles sich eine Tasse Sweet Dreams aufbrühte. Aber wenn sie es tat, dann würden ihre Träume alles andere als süß sein. Das war sicher.
Wenn sie richtig erkrankte, würde sie vielleicht merken, dass Sweetheart im wahrsten Sinne des Wortes »Gift« für sie war. Möglicherweise erkannte sie dann, dass es für jeden besser war, wenn sie wieder in ihre große schwarze, blitzende Limousine stieg und aus der Stadt abhaute. Sie waren alle sehr gut ohne sie zurechtgekommen. Es gab keinen Grund für sie, hier zu bleiben. Diejenigen, die hart gearbeitet hatten, verdienten die Belohnung, nicht irgend so eine Dahergelaufene.
Der Eindringling stellte gerade den Stuhl zurück, der die Haustierklappe blockiert hatte, als aus dem anderen Teil des Hauses Geräusche zu hören waren.
Jemand war im Haus.
Sie war hier.
Vielleicht auch Samuel Law.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss der Eingangstür. Der ungebetene Gast schlüpfte schnell durch die Hintertür hinaus und jagte an dem Hund vorbei, der immer noch an dem Knochen herumnagte.
Er durchquerte den Garten im Galopp. Das Herz schlug ihm bis zum Hals; seine Schläfen pochten. Er stützte sich mit einer Hand auf einen Zaunpfosten und schwang erst das eine und dann das andere Bein über den Gartenzaun. Jetzt noch schnell um den Teich, und dann eine letzte Kraftanstrengung, hinein ins Maisfeld und ab nach Hause.
Er rang nach Atem, war schweißnass.
Ihm zitterten die Knie.
Sein Puls jagte.
Er zog seine Gummihandschuhe aus und stopfte sie in eine Tasche. Kein Grund, jetzt nachlässig zu werden.
Außer dem
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