Kuess mich toedlich
ihn eingehend. Langsam und konzentriert wanderte ihr Blick über das Gesicht, das sie in jüngster Zeit ständig heimsuchte. So etwas war ihr völlig fremd, das hatte sie noch nie getan, jemandes Intimsphäre verletzt, um ihre Neugier und dieses unbenennbare , andere Gefühl zu befriedigen, das sie am liebsten im Keim ersticken würde. Aber im Moment hatte sie keine Kontrolle darüber. Eingehend verfolgte sie die langen Linien seines perfekt geschnittenen Kieferknochens und die Konturen seiner starken Kinnpartie. Es erinnerte sie daran, wie sehr sie sich wünschte, bei ihren Zeichnungen von Männerstatuen genau das hervorheben zu können, aber sie hatte es nie geschafft. Bens Kinn lud geradezu ein, mit der Hand umschlossen zu werden. Als verführte er dazu, das Unmögliche zu versuchen. Zumindest das Unmögliche für Sarah, Gefühle zuzulassen, jemandem ihr Geheimnis anzuvertrauen. Dieser Gedanke erschreckte sie, dennoch fuhr sie mit ihrer verbotenen Betrachtung fort. Jetzt, wo die Ablenkung seiner grauen Augen wegfiel, wirkte sein maskulines Gesicht beinahe zart, was wohl eher am entspannten Zug lag. Die dichten Augenbrauen und die unverkennbare Kraft, die er ausstrahlte, zeugten von eindeutiger Männlichkeit. Sie zuckte schnell zurück, als Ben im Schlaf ein feines Brummen von sich gab. Ihr Herz schlug beunruhigend schnell. Sie lehnte sich vorsichtig nach vorn, sehr darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, um sich seinen Mund, der zu sehr im Schatten lag, anzusehen. Vor Frustration über diese einladend geformten Lippen hätte sie am liebsten aufgestöhnt. Hatte sie je ernsthaft darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen würde, jemanden zu küssen? Na ja, eher küssen zu können. Eine tiefe Traurigkeit senkte sich über sie. Sie schloss fest die Augen, verbot sich, Ben weiter anzusehen oder übers Küssen nachzudenken.
Sarah kuschelte sich neben ihm auf das Sofa. Seltsamerweise fühlte sie sich bei Ben sicher, obwohl das heute alles passiert war und obwohl sie ihm nicht vertraute. Etwas an ihm gab ihr das Gefühl, beschützt und schutzlos zugleich zu sein. Dank ihrer Erschöpfung gewann das erste Gefühl und Sarah sank in einen traumlosen, bilderlosen Schlaf.
Als sie Stunden später erwachte, war Ben gegangen, was sich Sarah nicht erklären konnte. Sie hatte nichts gehört.
Nachdem sie geduscht hatte, um sich diese schreckliche Nacht abzuwaschen, entdeckte sie beim Kaffeemachen eine Notiz von ihm auf der Anrichte.
Sarah, ich musste zur Uni. Ich hoffe, es geht dir gut, nach allem, was gestern passiert ist. Es tut mir leid, dass die Dinge gestern so außer Kontrolle geraten sind. Ich kann es mir nicht erklären. Die Bedrohung hat bei mir wohl einen Adrenalinrausch ausgelöst. Ich war erschrocken über mich. Glaub mir, ich wollte nur nicht, dass dir etwas passiert. Pass auf dich auf! Ben.
Er hatte für die Nachricht einen Zettel ihres Haftnotizblocks benutzt. Sie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Aus einem Grund, den sie kannte, aber den sie sich nicht eingestehen wollte, nahm sie den Klebezettel und legte ihn in ihre Nachttischschublade neben eine alte Flohmarktausgabe von »Die Leiden des jungen Werther«.
*
Notizenprotokoll zum Fall Winter:
»Selbst bei unmittelbarer Bedrohung zeigt das Zielobjekt keine ungewöhnlichen Reaktionen oder Fähigkeiten. Die Zielperson wurde durch einen stärkeren und größeren Angreifer bei Nacht allein in einer Gasse bedroht und wirkte hilflos. Zugeteilter Assassin griff in die Situation ein, nachdem er sicher war, dass das Subjekt sich nicht selbst verteidigen würde, um damit ihr Vertrauen zu gewinnen.
Anm.: Subjekt zeigt auch im Schlaf keine ungewöhnlichen, unbewussten Entartungssymptome .«
Ben las alles noch einmal durch, ehe er die kurzen Zeilen über sein Smartphone verschlüsselt an die Familie schickte. Ben hatte lange darüber nachgedacht, ob er den Vorfall nicht verschweigen sollte. Doch dann war ihm klar geworden, dass es ihm in zweierlei Hinsicht nützlich sein könnte, diese Informationen an seine Auftraggeber weiterzuleiten. Zum einen sah Sarah dadurch unschuldiger aus, etwas, von dem er unbedingt wollte, dass die Familie anfing, es zu glauben. Und zum anderen würde es so aussehen, als hätte er diesen Vorfall benutzt, um sich an sie ranzumachen, was seinem letzten Befehl entgegenkam. Er wunderte sich, wie nahe Lüge und Wahrheit manchmal beieinanderlagen. Denn er hatte die Situation nicht bewusst genutzt, um ihr
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