Küss mich wie damals
wieder und bedeutete ihm, im Sessel Platz zu nehmen. Er ließ sich darin nieder, und sogleich fühlte sie sich wohler. „Es stimmt, ich habe eine gewisse Begabung, aber …“
„Verzeihen Sie, Madam, dass ich Sie unterbreche, doch Sie sind zu bescheiden. Sie haben ein unvergleichliches Talent …“
„Ach, Unsinn!“ Sie lächelte. „Sie haben doch das von mir gemalte Porträt bei Lord und Lady Willoughby gesehen und Kritik daran geübt.“
„Ich würde mich nie erdreisten, Ihre Arbeit zu kritisieren. Ich habe lediglich angemerkt, dass Sie der Auftraggeberin schmeichelten.“ Plötzlich lächelte Marcus, und der herzliche Ausdruck, an den Frances sich erinnerte, erschien in seinen Augen. Irgendwie erhellte sich dadurch sein etwas strenges Gesicht. „Und in Anbetracht Ihres Modells sollten Sie meine Bemerkung als Kompliment auffassen“, fügte er hinzu.
„Die Leute zahlen nicht dafür, mit der Realität konfrontiert zu werden, Euer Gnaden.“
„Und es ist wichtig, dass sie zahlen“, murmelte er.
„Ja, Sie haben recht.“
„Ich werde Ihre Bemühungen honorieren, und zwar sehr gut.“
„Die Eltern der Schülerinnen, die an meinem Malunterricht teilnehmen, müssen einen festen Satz entrichten.“
„Ich will nicht, dass Vinny nur eine Schülerin unter vielen ist. Ich möchte, dass sie ungeteilte Aufmerksamkeit bekommt.“ Das Hausmädchen erschien, knickste und räumte das Tablett ab. Nachdem es gegangen war, fuhr Marcus fort: „Ich schlage zwei Stunden pro Woche vor. Das müssten Sie einrichten können, besonders im Hinblick darauf, dass ich Ihnen pro Besuch zwanzig Pfund zu zahlen gedenke.“
„Machen Sie sich nicht lächerlich, Euer Gnaden“, erwiderte Frances gereizt. „Niemandes Unterricht ist so viel wert.“
„Oh, unterschätzen Sie sich nicht, Madam. Ihr Unterricht ist jeden Penny wert, wenn meine Tochter dadurch hervorragend unterwiesen wird.“
„Und was ist, wenn sie unbegabt sein sollte?“ Frances war verwirrt und überlegte, was Marcus im Sinn haben mochte. Sie hätte sein Ansinnen ablehnen, den Butler herbeirufen und diesen auffordern sollen, Seine Gnaden zur Haustür zu begleiten. Andererseits rechnete sie bereits in Gedanken zusammen, dass sie bei vierzig Pfund pro Woche genügend Geld für die Beköstigung und die Kleidung der Waisenkinder sowie den Lohn der angestellten Hilfskraft haben würde. Vielleicht blieb noch genügend für die Einrichtung des neuen, noch zu kaufenden Asyls übrig. Es wäre töricht, eine so großzügige Offerte zurückzuweisen.
„Man kann zeichnen lernen, nicht wahr?“, fragte Marcus seinerseits.
„Ja, in gewissem Ausmaß, doch wenn man kein Talent hat …“ Achselzuckend hielt Frances inne.
Durch das Schulterzucken hatten ihre Brüste sich bewegt, und Marcus empfand aufkeimendes Verlangen, unterdrückte es jedoch sogleich. „Es ist nicht meine Art, jemandem etwas beibringen zu wollen, für das er kein Talent hat“, fuhr Frances fort.
„Ich will nicht, dass Lavinia eine Koryphäe wird, nicht einmal eine mäßige Künstlerin, die reiche, ihr den Lebensunterhalt sichernde Gönner hat“, erwiderte Marcus. „Ich möchte, dass sie einigermaßen kompetent wird, nicht mehr.“
„Mittelmäßigkeit ist nicht gerade etwas, das man anstreben sollte, Euer Gnaden, ganz gleich, welchen Platz man im Leben bekleidet und was man tut“, entgegnete Frances spitz. „Das würden Sie nicht wollen, denn Sie waren, wie ich mich entsinne, immer ein Perfektionist. Warum glauben Sie, dass Ihre Tochter sich nicht auszeichnen sollte? Das würde sie nicht daran hindern, eine gute Partie zu machen.“
Plötzlich lachte Marcus. „Sie sind so freimütig wie immer, Madam. Aber natürlich haben Sie recht. Werden Sie Lavinia als Schülerin annehmen? Sie ist entzückend, doch da meine Gattin vor zwei Jahren starb, fehlt ihr die zügelnde Hand einer Mutter. Sie ist ein wenig ungebärdig geworden. Ich kann mir niemanden vorstellen, der besser geeignet wäre, sie zu schulen, als Sie, Madam.“
Es fiel ihr schwer, nicht zu lächeln. „Ich soll Lady Lavinia also den fehlenden Schliff verleihen?“, fragte sie trocken.
„Ja.“ Marcus nickte, und die harten Konturen seines Gesichts wurden weicher, sodass er um Jahre verjüngt aussah und nicht mehr so steif und herrisch. Falls sie auf sein unerhörtes Ansinnen einging, konnte das bedeuten, dass sie ihn öfter sah. Flüchtig überlegte sie, ob sie seine Gegenwart dann ertragen würde, insbesondere, wenn er sie so
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