Küss mich wie damals
Möglichkeit jedoch, dass man sie sah und erkannte, verlieh der Sache einen besonderen Reiz.
Ungefähr zwanzig Minuten später hielt sie vor ihrer Residenz, wo sie feststellen musste, dass der zum Reiten gekleidete Duke of Loscoe auf der Freitreppe stand. Offenbar hatte er gehört, dass sie außer Haus sei, und war im Begriff zu gehen. Sie wäre an ihrem Palais in der Hoffnung vorbeigefahren, er möge sie nicht bemerkt haben, doch Letzteres war leider nicht der Fall. Er starrte sie an, und sie fragte sich, ob seine Miene Abscheu ausdrückte.
Sie sah sich gezwungen, so zu tun, als sei es für eine adelige Dame nichts Ungewöhnliches, selbst zu kutschieren, und brachte das Gefährt zum Stehen. Dann warf sie Harker die Zügel zu, wies ihn an, sich um die Pferde zu kümmern, und sprang leichtfüßig auf die Straße. Lächelnd ging sie auf Marcus zu.
„Ich habe nicht mit Ihnen gerechnet, Euer Gnaden. Sonst wäre ich zu Hause geblieben.“
„Guten Tag, Madam“, erwiderte er, zog den Hut und verneigte sich. „Falls ich Ihnen ungelegen komme …“
Im Stillen schmunzelte sie. Er fühlte sich unbehaglicher als sie. Natürlich hätte sie ihn bitten können, ihr zu einer anderen Zeit die Aufwartung zu machen, aber sie war neugierig, warum er sie aufgesucht hatte. „Nein, Sie kommen mir nicht ungelegen, Euer Gnaden. Bitte, treten Sie ein.“ Sie ging ihm in die Halle voran und wies den Butler an: „Führen Sie Seine Gnaden in den Grünen Salon und servieren Sie ihm etwas zu trinken, Creeley. Ich bin gleich zurück.“
In ihrem Ankleidekabinett betrachtete sie sich im Spiegel. Das Kleid war fleckig geworden und zerknittert. Ihre Frisur saß auch nicht mehr ordentlich. Die Zofe schüttelte missbilligend den Kopf und half ihr dann, sich umzukleiden.
An sich war es Frances gleich, was Marcus gedacht haben mochte, als er sie in dem unansehnlichen Kleid sah. Früher hatte es jedoch eine Zeit gegeben, da sie des Mannes wegen, der nun im Salon saß, schlaflose Nächte zu verbringen pflegte. Dem eigenen Stolz zuliebe hatte sie sich damals eingeredet, es sei für sie nicht von Bedeutung, dass er ihrer harrte. Nun jedoch musste sie sich nichts mehr einreden. Es war ihr wirklich gleich, dass er auf sie wartete.
Dennoch hatte sie jäh das Gefühl, ihr geordnetes Leben könne durch ihn gestört werden. Sie überlegte, ob sie anders reagieren, ihn elegant und charmant finden würde, wäre er nur ein flüchtiger Bekannter und nicht der Mann, dem sie in ihrer Jugend begegnet war. Eine Antwort fand sie nicht. Es war nicht möglich, die Vergangenheit auszulöschen.
Schließlich begab sie sich, nachdem sie präsentabel gemacht worden war, zu ihm, sah ihn mit dem Rücken zu sich vor dem Fenster stehen und in den gepflegten Garten blicken.
Lächelnd drehte er sich um und musste einen Ausruf der Überraschung unterdrücken. Sie war sehr geschmackvoll gekleidet und strahlte Würde und Eleganz aus.
„Es tut mir leid, dass ich Sie so lange warten ließ“, sagte sie leichthin. „Ich hoffe, man hat Ihnen etwas zu trinken angeboten.“
„Ja, vielen Dank.“
„Bitte, nehmen Sie Platz.“ Frances ließ sich auf das Kanapee nieder und wies auf einen Sessel.
Marcus setzte sich und bedankte sich für den Tee, den sie ihm einschenkte.
„Bitte, bedienen Sie sich“, erwiderte sie höflich und wies auf das Gebäck.
„Nein, vielen Dank“, lehnte er ab.
Sie überlegte, warum er sie aufgesucht haben mochte. Er schien sie zu mustern, als versuche er herauszufinden, ob sie sich in all den Jahren der Trennung nach ihm verzehrt habe. Falls er annahm, er könne da weitermachen, wo er aufgehört hatte, war er im Irrtum. „Das Wetter ist schön“, äußerte sie beiläufig. „Ich bin überrascht, dass Sie nicht ausgeritten sind. Ich glaube, Ihre Tochter reitet sehr gern.“
„Ja“, bestätigte er. „Wir waren heute schon mit den Pferden unterwegs. Ich habe Lavinia vor einer halben Stunde nach Hause gebracht. Es hat ihr jedoch nicht sonderlich gefallen im Park.“
„Nun, dann wird sie froh sein, wenn sie wieder in Derbyshire ist.“
„Oh, ich habe nicht vor, in nächster Zeit dorthin zurückzukehren. Wenn Lavinia ausreiten will, muss sie lernen, sich mit den hiesigen Gegebenheiten abzufinden.“
Marcus wartete offenbar darauf, dass Frances sich erkundigte, warum er bei ihr sei. Diesen Gefallen wollte sie ihm jedoch nicht tun, selbst wenn sie genötigt sein sollte, nur oberflächliche Konversation mit ihm zu machen. Er stellte die
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