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Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Titel: Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roald Dahl
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nachzudenken. Und wer weiß, was noch alles geschehen könnte! Vielleicht würden Sie auf große Gedanken und Lösungen von Problemen kommen, auf Ideen, die imstande wären, unser ganzes Leben zu revolutionieren. Versuchen Sie, wenn Sie können, sich den Grad von Konzentration vorzustellen, den zu erreichen Ihnen möglich wäre!»
    «Und die Entsagungen?», warf ich ein.
    «Unsinn. Entsagungen gäbe es nicht. Ohne Wünsche keine Entsagung, und was für Wünsche sollten Sie denn haben? Körperliche jedenfalls nicht.»
    «Ich wäre doch gewiss fähig, mich meines bisherigen Lebens zu erinnern, und vielleicht würde ich wünschen, in die Welt zurückzukehren.»
    «Wie, in dieses Durcheinander? Aus Ihrer behaglichen Schale in dieses Tollhaus?»
    «Beantworten Sie mir noch eine Frage», sagte ich. «Wie lange werden Sie es wohl am Leben erhalten können?»
    «Das Gehirn? Ja, wer weiß das? Unter so idealen Bedingungen möglicherweise Jahre und Jahre. Die meisten gefährlichen Faktoren wären dank dem künstlichen Herzen ausgeschaltet. Der Blutdruck würde, was im wirklichen Leben unmöglich ist, immer gleich bleiben. Ebenso die Temperatur. Die chemische Zusammensetzung des Blutes wäre nahezu vollkommen. Keine Unreinheiten, keine Viren, keine Bakterien, nichts. Natürlich ist es verrückt, überhaupt eine Zahl zu nennen, aber ich nehme an, dass ein Gehirn unter solchen Umständen zwei- bis dreihundert Jahre leben kann. Und nun muss ich gehen. Morgen sehen wir uns wieder.» Damit verschwand er und ließ mich, wie Du Dir denken kannst, in ziemlicher Verwirrung zurück.
    Meine unmittelbare Reaktion war, dass ich Landys Vorschlag rundweg ablehnte. Diese ganze Angelegenheit behagte mir gar nicht. Es lag etwas überaus Abstoßendes in dem Gedanken, dass ich mit all meinen unverminderten geistigen Fähigkeiten auf ein schleimiges Klümpchen in einer Schüssel mit Wasser reduziert werden sollte. Das war monströs, schmutzig, gottlos. Und noch etwas anderes quälte mich: Der Gedanke an das Gefühl der Hilflosigkeit, das ich zweifellos empfinden würde, wenn Landy mich erst einmal in der Schale hatte. Dann gab es kein Zurück mehr, keine Möglichkeit, zu protestieren oder zu diskutieren. Dann war ich ihnen ausgeliefert, solange sie mich am Leben erhalten konnten.
    Und was, wenn ich es nicht zu ertragen vermochte? Wenn ich furchtbare Seelenqualen erdulden müsste! Wenn ich hysterisch würde?
    Keine Beine zum Davonlaufen. Keine Stimme zum Schreien. Nichts. Für die nächsten beiden Jahrhunderte müsste ich die Zähne zusammenbeißen und gute Miene zum bösen Spiel machen.
    Die Zähne zusammenbeißen? Ja, wie denn?
    Hier kam mir ein merkwürdiger Gedanke, und zwar dieser: Leidet nicht ein Mann, dem ein Bein amputiert worden ist, oft unter der Täuschung, das Bein noch zu haben? Sagt er nicht zu der Krankenschwester, dass ihm die Zehen – die er nicht mehr hat – wahnsinnig jucken und so weiter. Mir war, als hätte ich erst vor kurzem so etwas gehört.
    Sehr gut. War es dann nicht denkbar, dass mein Gehirn, wenn es allein in der Schale läge, unter einer ähnlichen Täuschung hinsichtlich meines Körpers leiden würde? In diesem Fall konnten mich all die vertrauten Schmerzen und Qualen überschwemmen, ohne dass ich auch nur die Möglichkeit hätte, sie durch Aspirin zu vertreiben. Vielleicht würde ich mir einbilden, einen entsetzlichen Krampf im Bein zu haben oder eine heftige Verdauungsstörung, und ein paar Minuten später hätte ich das Gefühl, meine arme Blase – Du kennst mich ja – sei so voll, dass sie platzen werde, wenn ich sie nicht bald entleeren dürfte.
    Gott behüte.
    Lange schlug ich mich mit diesen schrecklichen Gedanken herum. Dann, gegen Mittag, änderte sich auf einmal meine Stimmung. Die unangenehme Seite der Angelegenheit machte mir jetzt weniger zu schaffen, und ich war imstande, Landys Vorhaben in einem günstigeren Licht zu sehen. War nicht doch etwas Tröstliches an dem Gedanken, dass mein Gehirn nicht unbedingt in wenigen Wochen sterben und verschwinden musste? Ja, so war es. Ich bin stolz auf mein Gehirn. Es ist ein empfindungsreiches, lichtvolles, fruchtbares Organ. Es enthält einen gewaltigen Vorrat an Wissen und ist noch immer fähig, schöpferisch zu sein und selbständige Theorien zu produzieren. Wie Gehirne so sind, ist es ein verdammt gutes, das muss ich bei aller Bescheidenheit sagen. Mein Körper dagegen, mein armer alter Körper, den Landy wegwerfen will – nun, sogar Du, meine liebe Mary,

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