Küsse im Mondschein
einen flüchtigen Blick zu.
Die hohen Verandatüren des Ballsaals standen offen, ließen die Nacht hereinströmen. Martin trat durch sie hindurch, sein Blick schweifte durch den Raum. Er vertraute darauf, dass nur wenige der Gäste ihn wiedererkennen würden. Die Mehrheit hatte ihn doch schon seit zehn langen Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sicher, ein paar von ihnen würde er wohl dennoch kennen, und zwar von den weniger vornehmen, weniger respektierlichen Vergnügungsstätten her - weshalb Martin sich bemühte, sich bedeckt zu halten. Doch würden auch jene wenigen Damen, die Anlass hatten, sich nur allzu deutlich an ihn zu erinnern, gut daran tun, sich ihre Bekanntschaft mit ihm nicht anmerken zu lassen. Aber natürlich wäre es trotz alledem leichtsinnig gewesen, durch das helle Licht der Kronleuchter zu wandeln. Hingegen, einige rasche Schritte vorbei am Rande der dort versammelten Gästeschar bargen wohl nur ein minimales Risiko.
Sein Erinnerungsvermögen hatte ihn nicht im Stich gelassen: Um den Ballsaal im Herrenhaus der Caldecotts herum verlief eine Galerie. Und diese Galerie erreichte man über die Treppen, die von allen vier Ecken des Saales aus emporführten. Während Martin sich also im Zickzackkurs zwischen den Grüppchen am Rande der hier versammelten Gesellschaft hindurchbewegte, erreichte er schließlich die ihm am nächsten gelegene Treppe und stieg die Stufen hinauf.
Die Galerie war recht breit und eindeutig zum Zweck des Promenierens erbaut worden. Einige Paare flanierten dort bereits entlang. Doch lagen die Bereiche jenseits der Galeriebalustrade im Schatten, da die einzige Lichtquelle die im Ballsaal erstrahlenden Kronleuchter waren. Dies war also der ideale Ort für Martin, um das Geschehen unten im Saal zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, und zu versuchen, in dem Gewimmel von dunklen Jacketts und farbenfrohen Abendroben seine Beute auszumachen.
Und tatsächlich entdeckte er Amanda nur allzu leicht - ihre Locken schimmerten, als wären sie aus Gold, und sie trug ein Kleid von dem gleichen Kornblumenblau wie ihre Augen.
Sie stritt sich gerade mit einem blonden Gentleman.
Während Martin sie weiterhin beobachtete, umfasste der Gentleman Amandas Hand und versuchte, diese unter seinem Arm hindurchzuziehen. Martins Griff um die Balustrade wurde unwillkürlich härter.
Doch im nächsten Augenblick entriss Amanda dem Herrn ihre Hand mit einem Ruck. Wütend warf sie ihm leidenschaftliche Schimpfwörter an den Kopf. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte durch die Menge davon. Während Martin sich darauf konzentrierte, Amanda nicht aus den Augen zu verlieren, beobachtete er zugleich den brüsk zurückgewiesenen jungen Mann, bemerkte dessen hochmütiges Schulterzucken und die Art und Weise, wie dieser seine Manschetten zurechtzupfte. Allem Anschein nach hatte die grobe Abfuhr ihn nicht sonderlich getroffen.
Mit einem Stirnrunzeln wandte Martin sich schließlich wieder um und sah, wie Amanda am Fuße einer der zur Galerie emporführenden Treppen angelangte.
Einen Augenblick später kam sie auch schon heraufgeschritten. Versteckt hinter einer großen Säule, verfolgte er mit dem Blick, wie Amanda sich zunächst forschend umsah und schließlich zu jener Nische am Ende der Galerie hinüberging, wo man durch hohe Verandatüren hindurch den Garten betrachten konnte. Weniger als zwei Meter von ihr entfernt blieb er reglos im Schatten einer der Säulen stehen. Amanda ließ ihren Blick über die Rasenflächen schweifen, drückte schließlich sogar ihre Nase gegen die Scheibe und starrte mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen auf die Terrasse hinab.
Wo war er bloß? Denn wenn er sie hier nicht traf, so überlegte Amanda, dann würde Martin sich wohl niemals Zutritt zu jenem anderen Ball verschaffen können, den sie an diesem Abend noch zu besuchen gedachte - außer natürlich, er entschlösse sich, dort ganz regulär durch den Haupteingang hereinzukommen. Sie sorgte sich nicht mehr länger darum, dass Martin aufgeben könnte, dass er sie verlassen und einfach wieder zu seinem vorherigen Leben zurückkehren würde. Stattdessen fragte sie sich nunmehr, welchen Schachzug er als Nächstes anwenden würde, welches weitere Argument er wohl noch anführen wollte, um sie dazu zu überreden, ihn zu heiraten -
Sie spürte seine Gegenwart. Spürte sie in dem kurzen Augenblick, bevor er mit seinen Fingerspitzen ganz leicht über die sanfte Rundung ihrer Hüfte strich und seine Hand
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