Küsse im Mondschein
jedes Fenster, jede Tür, alles, wodurch sich ein ungebetener Gast Eintritt ins Haus verschaffen könnte. Sein Urgroßvater hatte einst dies Haus erbaut - und er hatte ein sehr stabiles Haus gebaut. Das eine Jahr der Vernachlässigung hatte dem Gebäude als solches nichts anhaben können und bis auf den Staub und die Spinnweben auch sonst kaum eine Spur hinterlassen. In dem sicheren Gefühl, dass ihnen in dieser Nacht kein »Straßenräuber« mehr etwas anhaben könnte, ging Martin zurück in die obere Etage. Als er die Tür zu seinem alten Zimmer öffnete, hörte er Reggie leicht lallend daherplappern.
»Wisst Ihr, Ihr seht genau so aus wie eine junge Dame, die ich früher kannte. Ihr könnt mir also vertrauen, bei mir seid Ihr wirklich in Sicherheit. Müssen wir - oder besser: muss ich - mich eigentlich erst einmal zu einem Vorstellungsgespräch bei dem Großen Alten Mann einfinden? Bei St. Petrus, meine ich. Oder gehört es zum guten Ton, einfach so reinzugondeln und so zu tun, als wäre man sich keiner Schuld bewusst? Denn ich glaube wirklich nicht, dass ich mir irgendetwas habe zu Schulden kommen lassen... Nein, ganz bestimmt nicht. Zumindest nichts allzu Verwerfliches, wisst Ihr.«
Amandas Patient warf sich ruhelos auf seinem Bett hin und her. Als Martin die Tür hinter sich schloss und das Kissenbündel ablegte, verharrte Reggie einen Augenblick lang reglos, dann streckte er sich langsam wieder und begann, an der Bettdecke zu zerren. Amanda hatte wirklich Mühe, das Deckbett immer wieder um ihn herumzustopfen. Martin hatte Reggie dieselbe Bewegung schon viele Male zuvor machen sehen: Er zupfte seine - imaginäre - Weste zurecht.
»Denn der Punkt ist doch der«, fuhr Reggie schließlich fort und senkte dabei verschwörerisch die Stimme, »ich hatte mir immer vorgestellt, dass er aussehen müsste wie mein alter Schuldirektor, der alte Pettigrew. Mittlerweile bin ich also richtig gespannt darauf, den alten Knaben mal persönlich kennen zu lernen.« Er hielt einen Moment lang inne, runzelte die Stirn, und verbesserte sich schließlich: »Also, St. Petrus, meine ich. Nicht Pettigrew. Denn wie der alte Pettigrew aussah, das weiß ich ja schließlich - aber er sieht doch wirklich aus wie Pettigrew, findet Ihr nicht auch?« Reggie schwafelte unentwegt weiter, doch es wurde zunehmend schwieriger, seine Worte zu verstehen, bis sie schließlich ganz ineinander verschwammen.
Amanda weinte leise, die Tränen rollten ihr über die Wangen hinab, während sie Reggie davon abzuhalten versuchte, weiter um sich zu schlagen und seinen Verband zu lösen. Er murmelte fortwährend, sprach mal etwas lauter, dann wieder leiser, und warf sich dabei ständig unruhig von der einen Seite auf die andere.
Martin schob Amanda sanft beiseite. »Setz dich ans Kopfende und halt seinen Kopf fest. Ich kümmere mich um den Rest.« Sie nickte, zog einmal die Nase hoch und rieb sich über die Wangen, während sie auf dem Bett hinaufrutschte. Gemeinsam schafften sie es schon wesentlich besser, Reggies durch das Delirium bedingten Bewegungsdrang wenigstens so weit in Schach zu halten, dass er sich nicht auch noch selbst am Kopf verletzte - und dass auch sie, Amanda und Martin, vor seinen Hieben verschont blieben. Martin musste hastig einmal quer über das Bett greifen und Reggies Arm packen, ehe dieser Amanda damit einen Schlag versetzen konnte. Soweit Martin es beurteilen konnte, wollte Reggie gerade vorführen, wie man mit einer Peitsche knallte.
Keiner von ihnen beiden konnte sich hinterher noch daran erinnern, wie lange Reggies Anfall gedauert hatte. Irgendwann jedoch ließen seine Unruhe und sein Gezappel schließlich nach, und er glitt abermals in eine noch tiefere Phase der Bewusstlosigkeit hinab. Martin richtete sich wieder auf und streckte seinen schmerzenden Rücken. Amanda ließ sich erschöpft gegen das Kopfende des Betts zurücksinken und löste widerstrebend ihren schraubstockartigen Griff um Reggies verbundenen Kopf.
»Er meint, er ist tot.«
Martin blickte in Amandas von Angst und Sorge gezeichnetes Gesicht, zog sie von dem Bett herunter und in seine Arme herein. Er drückte sie an sich, schmiegte ihren Kopf an seine Brust. »Aber er ist doch nicht tot. Und es besteht auch kein Anlass zu der Sorge, dass er das irgendwann in nächster Zeit sein wird. Wir müssen eben einfach abwarten. Er wird schon wieder aufwachen.« Im Stillen betete Martin inständig darum, dass seine Worte sich bewahrheiten würden.
Amanda zog abermals die
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