Küsse im Mondschein
Martin musterte sie verstohlen und wünschte sich inständig, dass Reggie sich endlich wieder bewegen, wenigstens irgendein kleines Lebenszeichen von sich geben würde. Doch der Arme war noch immer bewusstlos. Und je länger er in diesem Zustand verharrte, desto schlechter standen seine Chancen - allerdings sah Martin keinen Grund, diese Tatsache nun laut mitzuteilen.
Mit einem Nicken entließ er Colly schließlich aus seinem Dienst. »Schlaf ein bisschen. Wir werden morgen überlegen, was als Nächstes zu tun ist.«
Colly verbeugte sich kurz, dann verließ er die drei. Martin sah Amanda an. Sie war neben Reggie auf das Bett niedergesunken und starrte angespannt in sein weißes Gesicht hinab. Es war schon weit nach Mitternacht, und auch Martin und Amanda brauchten jetzt dringend etwas Ruhe. Doch Martin wusste es besser, als dass er Amanda nun vorgeschlagen hätte, ihre Nachtwache zu verlassen.
»Ich suche uns ein paar Steppdecken und Kissen zusammen.« Damit nahm er den kleineren der Kerzenleuchter mit sich. Amanda sah noch nicht einmal auf, als er das Zimmer verließ.
Draußen im Korridor zögerte Martin zuerst einen Moment, ging dann jedoch schließlich weiter in den privaten Familienflügel des Herrenhauses hinein und geradewegs auf die aus Eichenholz gearbeitete zweiflügelige Tür am Ende des Ganges zu, auf der in wertvoller Schnitzarbeit das Familienwappen prangte. Vor dieser Tür hielt er abermals für einen Moment inne und starrte blicklos auf das Wappen, als plötzlich eine Art Vision aus der Vergangenheit vor seinem inneren Auge aufstieg. Dann drehte er den Kopf, schaute nachdenklich auf die Tür zu seiner Linken. Nach einem langen Moment des Zögerns wandte er sich schließlich um und öffnete nicht die große Doppeltür, sondern die Tür zum einstigen Boudoir seiner Mutter.
Es war nun schon deutlich mehr als zehn Jahre her, seit er zuletzt diese Tür geöffnet hatte. Während seiner Kindheit war dies für ihn ein Ort schier unwiderstehlicher Freuden gewesen; wie aus einem Füllhorn waren hier die unterschiedlichsten Sinnesreize und bunten Bilder auf ihn eingeströmt.
Der Raum sah noch genauso aus, wie er ihn in Erinnerung gehabt hatte. Satin und Seide bestimmten das Bild, kostbarer Brokat und Spitzen. Selbst der Harem eines Sultans konnte nicht prachtvoller und üppiger ausgestattet sein als das Zimmer von Martins einst so wunderschöner Mutter. Von ihr hatte er seine wilde und sinnliche Natur geerbt, seine Empfindlichkeit für Berührungen jeglicher Art, seine Liebe für Farben und Stoffe. Er schloss die Tür, hob den Kandelaber und ließ den Blick über das zwischen den Fenstern stehende Schreibpult schweifen. Fast glaubte er, seine Mutter dort sitzen zu sehen, wie sie eine kurze Nachricht verfasste und sich dann zu ihm umblickte, um ihn mit jenem fröhlichen Lächeln zu begrüßen, das in gewisser Weise ihr Erkennungszeichen gewesen war, ihre größte Gabe.
An jenem bewussten Tag aber hatte sie ihn nicht angelächelt; sie hatte ihm nicht geglaubt, oder hatte vielmehr nicht gewusst, was sie überhaupt glauben sollte. Sie hatte gezögert, hatte ihn nicht sofort ihre Loyalität und ihre Unterstützung spüren lassen. Und das hatte genügt - hatte genügt, um dem Leben, wie Martin und seine Mutter es gekannt hatten, ein abruptes Ende zu bereiten.
Langsam trat Martin nun in das Zimmer hinein, erkannte die kleinen Porzellanfiguren wieder, eine Uhr, einen Brieföffner. Er atmete tief durch, glaubte fast, ihr Parfüm zu riechen - schwach und von den Jahren verblichen, doch noch immer wahrnehmbar.
Der Duft schien ihre Gegenwart wieder heraufzubeschwören, ihr Lächeln.
Martin hatte schon vor langer Zeit aufgehört, seiner Mutter die Schuld zu geben. Vor dem Bett blieb er stehen. Die Tagesdecke war aus gesteppter Seide, und überall in ihrem Zimmer waren seidene Tücher und Umhänge aus feinster Wolle drapiert. Sitzpolster mit seidenen Quasten, mit Spitzenborten verzierte Kissen; Martin stapelte sie alle in der Mitte des Bettes aufeinander, wickelte sie in die Tagesdecke, nahm den Kandelaber auf und ging schließlich zurück zu Amanda. Als er an der Tür zu seinem alten Zimmer ankam, hielt er noch einmal einen Moment inne. Kein Laut drang aus dem Inneren des Zimmers nach draußen. Martin legte sein seidenes Bündel vor der Tür ab und ging dann weiter, auf die Galerie zu.
Er kannte das Haus genau, es war ihm so vertraut wie eine zweite Haut. Er wanderte durch die Räume im Erdgeschoss, kontrollierte
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