Küsse im Mondschein
Gegenteil von Martins, und, was noch auffälliger war, auch ihr Körperbau war anders, nämlich eher stämmig-untersetzt und mit leicht hängenden Schultern. Und dieser Linie waren sie wahrlich treu geblieben; vom ersten Grafen bis hin zum letzten, Martins Vater.
Amanda blieb vor dem Porträt des letzten stehen. Martin brauchte ihr nicht erst zu sagen, wer darauf zu sehen war. Sie wusste es auch so, merkte es daran, wie still Martin auf einmal wurde, erkannte es an dem düsteren Schatten, der sich plötzlich über seinen Blick zu legen schien. Sie betrachtete das Bild des Mannes, der seinen Sohn verstoßen hatte - und das auch noch ganz ohne Grund, wie es jetzt den Anschein hatte. Das Gesicht auf dem Gemälde hatte einen sehr ernsten, fast strengen Ausdruck, und, ja, es strahlte auch ein gewisses Maß an Selbstgerechtigkeit aus, doch es ließ keinerlei Anzeichen von Grausamkeit oder Boshaftigkeit erkennen.
Mit einem leichten Stirnrunzeln ließ Amanda ihren Blick weiterwandern - und war geradezu gefesselt von dem nächsten Bildnis. Es schien ihre Aufmerksamkeit wie magisch anzuziehen. »Deine Mutter?«, fragte sie und blieb unmittelbar vor dem Gemälde stehen, während sie immer wieder zwischen den drei dort portraitierten Gesichtern hin- und herschaute.
»Und ihre Schwester.«
»Lucs Mutter - ich weiß. Auf dem Bild sieht sie noch so jung aus.«
»Damals waren sie ungefähr Anfang zwanzig.«
Martin hatte gesagt, dass er mehr nach seiner Mutter käme, und bis zu einem gewissen Grad stimmte das auch. Die Ähnlichkeit war unverkennbar und doch ein wenig gedämpft durch die männlichen und weiblichen Grundzüge des jeweiligen Gesichts. Dennoch erkannte Amanda, was Martin mit dieser Bemerkung gemeint hatte. Sie deutete auf den Mann, der zwischen den beiden Mädchen und damit zugleich hinter dem Tisch stand, an den sie, je eine rechts und eine links, platziert worden waren. »Und wer ist das?«
»Mein Onkel, ihr älterer Bruder.«
Der Mann war, wenn auch nicht unbedingt die exakte Kopie von Martin, so doch quasi eine Art Abbild, das dem Original ziemlich nahe kam. Sie ähnelten einander sogar so sehr, dass man nicht viel Vorstellungsvermögen brauchte, um sich auszumalen, wie man die beiden leicht miteinander verwechseln könnte; selbst auf eine relativ kurze Entfernung.
Amanda starrte das Gemälde an, nahm alles das, was das Bild ihr verriet, tief in sich auf - alles das, von dem Martin ganz offensichtlich gewollt hatte, dass sie es mit eigenen Augen sähe. Dann drehte sie sich zu ihm um und erwiderte seinen Blick aus achatfarbenen Augen. »Der Mörder ist ein Verwandter von dir, aber kein Fulbridge. Sondern jemand aus der Familie deiner Mutter.«
Als Martin nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Und dieser Jemand ist immer noch am Leben und will ganz offensichtlich verhindern, dass du diese alte Geschichte noch einmal unter die Lupe nimmst. Denn wenn du das tust, dann...«
Nach einem Moment des Schweigens beendete Martin den Satz, den Blick dabei tief in Amandas Augen gesenkt: »Dieser Jemand hatte gehofft, dass die Angelegenheit längst begraben und er in Sicherheit wäre - denn ich hatte den Fall ja auch in der Tat lange Zeit ruhen lassen. Selbst nach meiner Rückkehr nach London hatte ich erst einmal nichts mehr unternommen, um meine Unschuld zu beweisen und nach dem wahren Mörder zu suchen. Jetzt aber, da mein Interesse an dir kein Geheimnis mehr ist, hat offenbar auch der Mörder erfahren, dass ich offiziell um deine Hand angehalten habe. Und wer die Cynsters kennt, kann sich denken, dass ich das Wohlwollen deiner Familie nicht einfach so bekommen habe, sondern dass ich schwören musste, den alten Skandal zu bereinigen. Und damit ist ganz unerwartet plötzlich auch der Mörder wieder unter Zugzwang geraten.«
Amanda sah Martin fest in die Augen und nickte. »Also hat er zurückgeschlagen - und wollte in Wirklichkeit dich töten, als er Reggie erwischt hat.«
»Ja.«
»Meinst du, dass er das erkannt hat? Ich meine, dass er Reggie angeschossen hat und nicht dich?«
»Vielleicht. In jedem Fall musste er schleunigst wieder verschwinden und uns damit im Endeffekt entkommen lassen. Und hier kann er mich nicht noch einmal angreifen, das kann er nicht riskieren.«
Amanda blickte Martin mit gerunzelter Stirn an. »Warum denn nicht? Vielleicht kennt er sich hier ja aus -«
»Aber wenn er die Gegend hier kennt, dann kennen die Dorfbewohner auch ihn.« Als Amanda noch immer nicht so recht überzeugt schien,
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