Küsse im Mondschein
Jedenfalls verstieß er seine Tochter daraufhin. Und am Ende nahm sie sich das Leben. Dexter erfuhr von dem Ganzen erst, als er das nächste Mal von London aus wieder nach Hause fuhr. Er machte sich sofort auf den Weg, um den Vater des Mädchens aufzusuchen, und hat ihn dann - so wurde es hier jedenfalls erzählt - umgebracht. Und dann war er auch noch so dumm, neben der Leiche stehen zu bleiben, bis die Dorfbewohner ihn schließlich fanden.
Der alte Dexter - also der Vater von dem jetzigen - war natürlich entsetzt und wollte seinen Sohn auf der Stelle enterben. Aber dann wären der Titel und der dazugehörige Besitz an die Krone zurückgefallen. Außerdem liebte die Gräfin ihren Sohn abgöttisch - er war quasi ihr einziges Küken. Und der alte Dexter wiederum vergötterte seine Gräfin. Daran, den Burschen einfach vor Gericht zu stellen und seiner gerechten Strafe zu überlassen, war natürlich überhaupt nicht zu denken - zumindest damals nicht. Also wurde Dexter in die Verbannung geschickt. Solange sein Vater noch lebte, durfte er nicht nach England zurückkehren. Das zumindest ist die Geschichte, die wir hier in London gehört haben.« Lady Osbaldestone faltete die Hände vor ihrer nicht unbeträchtlichen Leibesmitte. »Was wir davon wiederum für bare Münze genommen haben und was nicht - nun, das ist ein ganz anderes Thema.«
»Dann glaubte die Gesellschaft also nicht, dass er - der jetzige Graf, meine ich - den Vater des Mädchens ermordet hatte?«
Lady Osbaldestone legte die Stirn in Falten. »Es wäre richtiger zu sagen, dass man sich hier mit seinem Urteil allgemein zurückhielt. Denn Dexter, der jetzige Graf, wie du schon anmerktest, mochte zwar ein Hitzkopf gewesen sein, ein wilder und ungestümer Bursche, aber er schien uns nie irgendwelche wirklich unangenehmen Züge zu haben - er schien sozusagen nie der schlechte Apfel im Körbchen seiner Familie zu sein.«
Ihre Ladyschaft betrachtete Amanda einen Moment lang schweigend. Dann fuhr sie in etwas sanfterem Ton fort: »Was ich damit sagen will, ist doch vor allem eines - bei jeder guten Ernte gibt es auch immer den einen oder anderen schlechten Apfel. Und welcher nun genau dieser Apfel ist, kann man meist erst dann sagen, wenn man sie quasi in die Saftpresse legt - erst dann zeigt sich, wie es um das Innere der Früchtchen bestellt ist. Denn auch wenn Dexter unter gewissen Umständen vielleicht dazu fähig sein mag, einen Menschen zu erschlagen, so ging es doch weit über das Vorstellungsvermögen der meisten von uns hinaus, dass er auch zu einem kaltblütigen Mord in der Lage sein sollte. Dazu bräuchte es schon ein sehr finsteres Herz, und das hatte Dexter nicht. Er war ein lebhafter junger Lord, voller Tatendrang, voller Erlebnishunger, und vielleicht sogar leichtsinnig - aber ein Mörder war er nun wirklich nicht. Und alle, die immer noch daran zweifeln, mögen sich zum Teufel scheren. Er hatte sich zwar nur für ein paar Monate in unseren Kreisen aufgehalten, aber selbst in der kurzen Zeit hatten wir wahrlich genug gesehen, um uns ein Bild von ihm machen zu können.«
Lady Osbaldestone machte eine kurze Pause, dann ergänzte sie: »Zumal es da auch noch die unbestreitbare Tatsache gab, dass sein Vater ein wahrer Zuchtmeister war. Ein guter Mann, das sicherlich, aber eben auch sehr streng und vor allem selbstgerecht. Die bloße Vorstellung, dass sein Sohn womöglich ein Mörder sein könnte - geschweige denn auch noch diese dem Mord vorausgehende Tat begangen haben sollte -, hatte Dexters Vater sowohl in seinem Stolz als auch in seiner Seele zutiefst verletzt. Binnen Stunden wurden also die Entscheidungen über Martin Fulbridges weiteres Schicksal getroffen und die nötigen Vorkehrungen in die Wege geleitet. Aber unter solchen Umständen und noch dazu, wenn die Gefühle hoch hergehen, kann einem schon einmal ein Fehlurteil unterlaufen.«
Amanda hatte Mühe, die vielen Informationen in sich aufzunehmen. Schließlich fragte sie: »Dann ist die derzeitige Meinung über Dexter also...?«
Wieder schnaubte Ihre Ladyschaft lediglich verächtlich. »Bei dem Vermögen? Mal ganz abgesehen von seinem fantastischen Aussehen - aber Letzteres weiß ich natürlich nur vom Hörensagen. Also, um es kurz zu machen: Es gibt zweifellos eine ganze Reihe von Mamas, die ihre Töchter auf der Stelle und ohne jede Umschweife sofort mit ihm verheiraten würden. Mörder hin oder her.« Sie bohrte ihren Blick in den von Amanda. »Deine Mutter allerdings gehört nicht
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