Küsse im Morgenlicht
Übrigen wäre er in seinen Augen ein wahrer Schurke gewesen, wenn er - so kurz nach diesem wichtigen Erlebnis für Amelia und ohne seitdem auch nur ein einziges Mal mit ihr darüber gesprochen zu haben - gleich schon wieder in ihr Schlafzimmer eingedrungen wäre.
Denn der Gedanke, dass er sich ja auch einfach nur so zu ihr hätte legen können, seine Hand auf ihr, ihre Hand auf ihm, um bloß ein wenig mit ihr zu plaudern... Nun, dieser Gedanke war doch wohl geradezu lachhaft. Nein, er hatte sich dafür entschieden, die Nacht über erst einmal gründlich über das Erlebte nachzudenken. Was ihn nur leider auch nicht weitergebracht hatte.
Fünf kurze Minuten an diesem Morgen jedoch hatten dann plötzlich alles verändert, hatten seine Gedanken auf wunderliche Weise endlich geordnet. Und zwar waren es jene fünf Minuten nach dem Frühstück gewesen, in denen er zunächst befürchtet und schließlich mit Sicherheit gewusst hatte, dass Amelia sich nicht mehr auf Hightham Hall befand.
Noch nicht einmal seine spätere Entdeckung, dass Amelia das Haus bloß deshalb verlassen hatte, um den Anstandswauwau für seine Schwester zu spielen, hatte seine Laune dann noch heben können.
Und es war zweifellos eine sehr schlichte, primitive und aus seinem tiefsten Inneren aufsteigende Laune gewesen, die er in diesem Moment verspürt hatte. Eine Laune, so düster, dass er sie mit niemandem hatte erörtern wollen - vor allem nicht mit Amelia.
Denn Gott allein wusste, was dann als Nächstes passiert wäre.
Luc öffnete die Augen wieder, stieß einen tiefen, resignierten Seufzer aus und marschierte kurz entschlossen nach draußen.
Er eilte die Vordertreppe hinab und bog auf jenen Weg ein, der einmal um den kompletten Westflügel des Anwesens herumführte. Dort aber entdeckte er eine wahre Horde von Damen, jungen und alten, die gerade das Innere der Korridore abmarschierten und nach einem Ausgang suchten, durch den sie in den Garten gelangen konnten. Kurze Zeit darauf war das Glück dann aber wieder auf seiner Seite, denn als Luc durch einen versteckten Seiteneingang in das Hausinnere trat, war die kleine Eingangshalle am Fuße der schmalen Dienstbotentreppe menschenleer. Er eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Oben angekommen, hielt er kurz inne, spähte vorsichtig um die Ecke und blickte den Korridor entlang. Doch auch dort schien sich zurzeit niemand aufzuhalten. Schließlich stand er vor Amelias Tür und drückte leise, doch beherzt die Klinke hinunter. Er schob sich hastig durch den Türspalt, hatte jedoch nur Zeit für einen ganz kurzen Blick in den Raum, ehe er sich umwenden musste, um die Tür rasch und lautlos wieder zu schließen.
Doch er hatte sie gesehen; sie lag auf dem Bett. Das grüne Kleid, die goldenen Locken - das konnte nur Amelia sein.
Nachdem er die Tür wieder fest ins Schloss gedrückt hatte, wandte er sich um. Und er konnte seinen Zorn nur mit Mühe bezwingen.
Denn Amelia schlief.
Das erkannte er auf Anhieb, noch ehe er auch nur einen Schritt weiter in ihr Zimmer hineingetreten war. Ihr einer Arm lag über der Tagesdecke - einer anderen Tagesdecke als gestern -, und über die leicht gekrümmten Finger spielte ein heller Sonnenstrahl. Sowohl die Hand als auch der Arm lagen vollkommen entspannt da; in jener Entspannung, die man nur im Schlaf erlangte.
Leise trat er neben das Bett, an eine Stelle, wo er zwischen den dünnen, duftigen Vorhängen hindurchspähen und Amelia in aller Ausführlichkeit betrachten konnte.
Sie lag auf der Seite, die Wange in eine Hand gebettet. Ihre goldenen Locken umrahmten ihre hübschen, fein geschnittenen Gesichtszüge. Bewegungslos lagen ihre langen, braunen Wimpern auf der alabasterweißen Haut, und der Ausflug am Morgen hatte eine zarte Röte auf ihre Wangen gezaubert. Ihr weicher, verletzlicher Mund war leicht geöffnet; ihre Lippen schienen Luc zu locken und zu necken …
Wie würde sie reagieren, wenn er sie nun einfach küsste? Wenn er sie aus ihrem Schlaf riss und ihr dennoch verbot, die Augen zu öffnen? Wenn er sie aus dem einen Traum in den anderen entführte, und von dort aus bis in die Ekstase hinein?
Luc wandte den Blick von ihrem Gesicht ab und ließ ihn langsam über ihren Körper schweifen. Das sanfte und gleichmäßige Heben und Senken ihrer Brüste, deren reizvoll gerundete Ansätze über dem runden Ausschnitt von Amelias Kleid sichtbar waren, bestätigte Luc nur noch einmal in seiner Vermutung, dass Amelia tief und fest schlafen musste.
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