Küsse im Morgenlicht
Amelia seinem Zornesausbruch ihren eigenen, kleinen Wutausbruch entgegengesetzt, denn sie war - zumindest aus ihrer Sicht - mit Recht erbost über die herrische Art, mit der Luc augenscheinlich über jeden ihrer Schritte informiert sein wollte. Hätte sie dagegen die Wahrheit gekannt, hätte sie gewusst, was der wahre Grund war, weshalb er sich so über ihr Verschwinden erregt hatte... nun, dann wiederum hätte sie wohl weniger mit Zorn, sondern eher mit einem geschmeichelten Lächeln reagiert.
Luc musterte ihr Gesicht, während die Minuten langsam, eine nach der anderen, verstrichen. Schließlich entspannte auch er sich ein wenig, und die Verkrampfung wich aus seinen Gliedern.
Ein seltsames Gefühl der Zufriedenheit legte sich über ihn, als er Amelia weiterhin dabei beobachtete, wie diese schlief. Zwar reizte ihn die Idee, sie endlich aufzuwecken, noch immer, aber... es war doch erst weniger als vierundzwanzig Stunden her, seit er tief in ihr vergraben gewesen war. Wie tief, das hatte er noch gut in Erinnerung. Zudem war sie heute Morgen dann noch Gott weiß wo alles herumgewandert. Es war also leicht nachzuvollziehen, dass der Schlaf sie nun einfach überwältigt hatte.
Abermals ließ Luc aufmerksam den Blick über sie gleiten. Dann lächelte er, stand auf, reckte sich und kehrte zurück zur Tür. Er wollte sie schlafen lassen, wollte sie wieder zu Kräften kommen lassen - damit er kein allzu schlechtes Gewissen haben müsste, wenn er ihr am Abend wieder ein paar Stündchen von diesem Schlaf stahl.
Kurz bevor er an der Tür angelangt war, schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Luc blieb wie angewurzelt stehen. Denn wenn Amelia nun irgendwann wieder erwachte, musste sie doch glauben, er hätte sie - abermals - nirgends finden können. Sie würde sich also nach ihm auf die Suche machen, in der Erwartung, ihn nun - abermals - in nicht allzu heiterer Laune anzutreffen. Und dann würde sie ihm nicht mehr in ihrer gewohnt entspannten, ungezwungenen Art gegenübertreten, sondern sie würde sich innerlich mit Sicherheit bereits gegen den - nach ihrem Glauben - erneut anstehenden Streit gewappnet haben. Und genau das würde Lucs nun mittlerweile, sagen wir, überarbeiteten Plänen vollkommen zuwiderlaufen.
Luc drehte sich wieder um, stellte aber schnell fest, dass nirgends eine Schreibgarnitur zu sehen war. Hastig zog er also sein eigenes kleines Notizbuch und einen Stift hervor, ließ abermals den Blick durch den Raum schweifen und fand endlich, wonach er gesucht hatte. Dann dachte er kurz nach und schrieb schließlich fünf knappe Worte: Heute Abend um Mitternacht. Hier. Anschließend riss er die schmale Seite heraus, ließ Notizbüchlein und Stift wieder in seiner Tasche verschwinden und schritt hinüber zu dem Tisch in der Mitte des Raumes.
Luc wählte sorgsam eine der weißen Lilien aus, deren exotischer Duft sich schwer über den Raum gebreitet hatte, brach das größte Stück des Stängels ab und wickelte die kleine Nachricht um den verbleibenden Stumpf. Damit ging er zu Amelias Bett hinüber.
Sie schlief noch immer fest. Und sie regte sich auch nicht, als er den kleinen, verbleibenden Stängel der Lilie, der nun seine, Lucs, Nachricht an Amelia trug, behutsam durch ihre Locken flocht, sodass die Blüte unmittelbar neben ihrem Ohr lag.
Er blieb noch einen Augenblick stehen, ließ noch einmal den Blick über sie wandern und verließ dann leise das Zimmer.
Es würden noch einige Stunden vergehen müssen, bis endlich Mitternacht war.
Scheinbar vollkommen gelassen nahm Amelia ihren Nachmittagstee ein. Danach wurde für einige Zeit Scharade gespielt. Darauf wiederum zog Amelia sich pflichtschuldigst um und ließ sich während des Abendessens schließlich von Mr. Pomfret unterhalten.
Als Luc sich im Salon dann irgendwann endlich wieder zu ihr gesellte, musste sie sich sehr beherrschen, um nicht einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. Ungeduldig wartete sie darauf, dass er sie unter irgendeinem Vorwand hinausführen würde. Doch stattdessen blieb er einfach nur neben ihr stehen und unterhielt sich überaus charmant mit Lady Hilborough, Miss Quigley, sowie deren Verlobtem, Sir Reginald Bone.
Mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen harrte Amelia neben ihm aus - innerlich aber knirschte sie regelrecht mit den Zähnen. Er hatte doch mit ihr über irgendetwas sprechen wollen, oder etwa nicht? Er hatte sogar hartnäckig und geradezu unfreundlich darauf bestanden, dass er ihr etwas erklären
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