Küsse im Morgenlicht
Jenes Haus, das, ganz aus hellem, fast schon goldenem Stein gearbeitet, im Licht der von Westen erstrahlenden Sonne lag, geborgen in einem kleinen Tal, hinter dem sich in einiger Entfernung eine sanft ansteigende Hügelkette erhob. Eine gewisse Zeitlang konnte sie das Anwesen von der Kutsche aus ungehindert betrachten, denn die Straße verlief parallel zu den Hügeln jenseits des flachen Tales. Im Übrigen war der Weg ganz bewusst genau so angelegt worden, um ankommenden Besuchern bereits schon einmal eine Einstimmung auf die stille Schönheit von Calverton Chase zu bieten - jenem eleganten, doch zugleich auch soliden Herrenhaus, das eingebettet in dieser so üppigen und geradezu kostbaren Landschaft lag.
Die Felder, die das Haus umschlossen, waren von einem kräftigen Grün, das sich jedoch langsam schon wieder in das Grau der Schatten einfügte, denn die Sonne sank bereits hinter die Hügel hinab, und das Licht wurde schwächer. Doch selbst im Zwielicht schien von dem Haus noch ein geheimnisvoller Glanz auszugehen, der den Reisenden, vor allem aber jene, die in seinen Schutz zurückkehrten, mit seinem Anblick wärmte; ganz so, als ob der Stein von innen heraus strahlen würde.
Groß und lang gestreckt, beherbergte das Herrenhaus zwei Stockwerke, über denen wiederum eine Reihe von Mansardenfenstern thronten. Die Fassade war sehr klassisch, und das Vordach vor dem zentralen Eingang wurde gestützt von zwei schlichten Säulen. Dennoch bildete das Haus keine geradlinige Front, sondern beschrieb einen leichten Bogen. Im Zentrum saß das Hauptgebäude, dessen Mittelpunkt wiederum durch den angedeuteten Portikus markiert wurde. An das Hauptgebäude angeschlossen lagen die ausladenden Flügel, die sich weit nach Westen und nach Osten hin erstreckten. Die Enden der Flügel jedoch beschrieben jeweils einen leichten Bogen, der sich nach vorne in das Tal hineinzuschmiegen schien.
Der mittlere Bereich war bereits mehrere Jahrhunderte alt. Immer wieder und wieder hatte man ihn umgebaut und neu gestaltet, bis schließlich die beiden Flügel angefügt worden waren.
Hinter dem Endstück des Ostflügels erstreckte sich das dunkle Grün alter Bäume. Vor langer Zeit hatten hier einmal die Ländereien des Herrensitzes gelegen, nun war das Gebiet zugewachsen zu einem dichten Wald. Westlich des Hauses lagen die Felder des zu dem Anwesen gehörenden Bauernhofs, und hier und da lugten zwischen dem - auch hier üppig wuchernden - Grün die Dächer der Ställe und Scheunen hervor. Hinter dem Haus, und von der Kutsche aus zurzeit nicht zu sehen, lagen die Gartenanlagen und Ziergärten von Calverton Chase. Neugierig schaute Amelia aus dem Kutschenfenster, träumte von den herrlichen Gärten, dachte an die Stunden, die sie dort in der Vergangenheit bereits verbracht hatte... dann löste sie sich von ihren Erinnerungen.
Und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit der Zukunft zu.
Amelia dachte an die schier endlosen Träume, die sie sich einst, als noch nicht verheiratete Frau, ausgemalt hatte. Sie alle hatten hier in diesem Haus gespielt. Nun war der Zeitpunkt gekommen, um ihren Träumen in ihrem neuen Heim Gestalt zu verleihen.
Auch Luc bewunderte, dicht hinter Amelia geduckt, das Panorama, und auch sein Blick verweilte lange Zeit auf Calverton Chase - seinem Zuhause. Mit zusammengekniffenen Augen überzeugte er sich davon, dass die kaputten Schieferziegel auf dem Dach des Westflügels durch neue ersetzt worden waren und dass man die Mauer, die vor nunmehr rund zehn Jahren durch einen umgestürzten Baum eingebrochen war, wieder hochgezogen hatte. Und unerwarteterweise berührte der Anblick des tipptopp in Stand gesetzten Hauses ihn tief. Nun sah es endlich wieder so aus wie zu jenem Zeitpunkt, als er es das erste Mal gesehen hatte. Damals, als sein Großvater noch lebte.
Der Verfall, den das Haus zu Zeiten seines Vaters erlitten hatte, war teilweise schon wieder behoben worden. Der Auftrag zu den Reparaturarbeiten hatte mit zu den ersten dringenden Angelegenheiten gehört, die Luc gleich am nächsten Tag, nachdem er von seinem neuen Wohlstand erfahren hatte, geregelt hatte. Jener Tag, als er in den Morgenstunden Amelias Antrag angenommen hatte - als er einwilligte, Hand in Hand mit ihr der Zukunft entgegentreten zu wollen, um zu sehen, wie sie sie gemeinsam gestalten würden.
Zusammen. Hier.
Vorsichtig ließ er den Blick zu Amelia hinüberschweifen. Und wieder wurde er von diesem Besitzstreben ergriffen, das ihn neuerdings immer häufiger
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