Küsse im Morgenlicht
seine ganz eigene, nicht weniger spannungsgeladene Gedankenwelt ab. Die Naturgewalten spiegelten seine Emotionen wider, alle jene Gefühle, die er den Tag über kontinuierlich hatte unterdrücken müssen. Bis schließlich sein gesamtes Denken und Empfinden auf nichts anderes mehr ausgerichtet war als darauf, dieses geradezu brutale Verlangen, das ihm so zu schaffen machte, endlich zu befriedigen.
Amelia saß ganz am anderen Ende des Tisches, der zwar so weit wie möglich zusammengeschoben worden war, aber immer noch gut zehn Personen hätte Platz bieten können. Aufmerksam musterte sie ihren Ehemann, überlegte, was dessen wortkarge Stimmung wohl verursacht haben mochte. Im Laufe der Jahre hatte sie Luc nun schon in allen möglichen Gemütszuständen erlebt - die Art und Weise, wie er sich an diesem Abend gab, war ihr jedoch neu. Er war so anders...
So spannungsgeladen.
Sie spürte, wie es förmlich zwischen ihnen beiden zu knistern schien, und ihre Vorfreude auf die späteren Stunden des Abends wuchs beständig. Zudem wurde Amelia von einer geradezu grenzenlosen Erleichterung durchströmt, der Erleichterung darüber, dass Luc nun endlich der ihre war - wodurch ihre Ungeduld natürlich nur noch weiter angefacht wurde. Lucs unerwartet zurückhaltendes Benehmen, das plötzliche Fehlen all jener kleinen, verliebten Gesten, die zwischen ihnen beiden schon ganz selbstverständlich geworden waren, verunsicherten sie jedoch. Sie fragte sich, ob sein körperliches Verlangen nach ihr nun wohl bereits nachgelassen haben mochte, nun, da sie offiziell seine Ehefrau war. Vor ein paar Tagen jedenfalls hatte er offenbar noch ganz anders empfunden, sodass Amelia sich mittlerweile fragte, ob sein Interesse an ihr tatsächlich so groß gewesen war, wie sie geglaubt hatte. Oder hatte er ihr sein leidenschaftliches Verlangen, zumindest bis zu einem gewissen Grad, womöglich nur vorgespielt?
Amelia schaute zum anderen Ende des Tisches hinüber, beobachtete, wie Luc einen Schluck aus seinem kristallenen Kelch nahm und dabei unentwegt aus den Fenstern starrte, hinter denen das Unwetter heraufzog. Luc war schon immer etwas rätselhaft, war oftmals kühl und reserviert gewesen. Doch Amelia war davon ausgegangen, dass mit zunehmender Vertrautheit auch diese unsichtbaren Mauern, die er vor seiner Umwelt errichtet hatte, langsam nachgeben würden. Stattdessen sah es im Augenblick eher so aus, als ob - je näher er und Amelia sich kamen - sein Schutzschild immer undurchdringlicher würde. Luc gab ihr zunehmend größere Rätsel auf.
Dennoch würde er vermutlich wohl auch weiterhin den leidenschaftlichen Liebhaber spielen - in dem Glauben, sich durch die Befriedigung von Amelias Ansprüchen an die Ehe ein möglichst konfliktfreies Zusammenleben zu erkaufen.
Allerdings war Amelia kein unbedarftes junges Mädchen mehr. Sie wusste durchaus, zu welchen Tricks Luc greifen würde, wenn er sich dadurch sein Leben etwas einfacher gestalten konnte.
Cottsloe erschien mit der Weinflasche. Luc warf einen raschen Blick auf Amelias Teller mit Feigenkompott, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich sogleich wieder der schweigenden Betrachtung des Sturms zu.
Die knisternde Spannung zwischen ihnen wurde, angeheizt durch jenen kurzen, düsteren und ungeduldigen Blick, den er Amelia bei Cottsloes Erscheinen zugeworfen hatte, noch um einiges intensiver.
Amelia unterdrückte ein Lächeln und widmete sich gehorsam dem Verspeisen des Nachtischs. Sie konnte das Dessert schließlich nicht einfach unberührt zurückgehen lassen. Mrs. Higgs hatte erklärt, jeder einzelne Gang des Abendessens wäre von der Köchin mit allergrößter Liebe zubereitet worden - in der Tat waren die Speisen von außergewöhnlichem kulinarischen Reiz. Und wenn der Brotherr der Köchin dem ausgezeichneten Essen schon keinerlei Beachtung schenkte, so wollte zumindest Amelia dem Werk die gebührende Achtung erweisen.
Zumal sie die körperliche Stärkung im Hinblick auf den späteren Teil des Abends wohl auch durchaus gebrauchen konnte.
Ganz unvermittelt war ihr dieser verwegene Gedanke durch den Kopf geschossen, und fast hätte sie sich verschluckt. Doch auch sie hatte eben so ihre ganz eigenen Hoffnungen und Erwartungen, was den weiteren Verlauf des Abends anging, und ihre Fantasie schlug bereits Purzelbäume.
Denn zumindest einer Sache war sie sich, seit sie die Bibliothek betreten hatte, trotz aller Zweifel ganz sicher: Unabhängig davon, was Luc ihr womöglich sonst alles
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