Küsse im Morgenlicht
von denen im Esszimmer. Und auch die Stühle in beiden Räumen brauchten neue Polster.
»Wäre das dann alles, Ma’am?«, fragte Mrs. Higgs. »Falls ja, soll ich Euch dann Euren Tee bringen?«
Amelia hob den Kopf, überlegte kurz, kam dann aber zu dem Ergebnis, dass Luc im Moment sicherlich noch keinen Tee wünschte. »Ja, bitte. Lasst ihn mir bitte im kleinen Salon servieren.«
Die Haushälterin nickte und zog sich zurück. Amelia ging in den kleinen Salon hinter dem Musikzimmer.
Dort legte sie ihre Notizen - einen beträchtlichen Stapel - auf den Sekretär und streckte sich zum Entspannen auf der Chaiselongue aus. Ein Lakai erschien mit ihrem Teetablett. Amelia dankte ihm und schickte ihn dann wieder fort. Endlich allein, schenkte sie sich eine Tasse ein und nippte daran. Die Ruhe, die sie umgab, das Alleinsein, kamen ihr sehr ungewohnt und befremdlich vor.
Obwohl die Stille natürlich nicht lange anhalten würde, schließlich war dies stets ein Haus voller Menschen gewesen, die meisten von ihnen Frauen. Und sobald Minerva und Lucs Schwestern aus London zurückkehrten, würde auf Calverton Chase alles wieder so zugehen wie immer.
Nein - nicht wie immer. Das stimmte nicht.
Denn das war es ja gerade, was diese eigentümlich stille Zwischenphase ankündigte: die Geburt einer neuen Ära. Und - genau wie Mrs. Higgs gesagt hatte, war nicht nur das Wetter umgeschwungen und eine neue Jahreszeit angebrochen, sondern auch die Menschen auf diesem Anwesen bewegten sich einer neuen, einer anderen Zeit entgegen.
Einer Zeit, in der die Verantwortung für einen reibungslos funktionierenden Haushalt in Calverton Chase nun in ihren, Amelias, Händen liegen würde. Nun musste sie das Haus führen und für alles Sorge tragen. Gemeinsam mussten Luc und sie die Geschicke lenken, mussten die Familie, die in diesem Haus lebte, durch sämtliche Höhen und Tiefen, durch sämtliche Prüfungen, die ihnen noch bevorstehen mochten, sicher hindurchgeleiten.
Abermals nippte Amelia an ihrem Tee und spürte, wie ihre Zukunft, das Gewebe ihres zukünftigen Lebens, sie vage, fast noch ein wenig formlos, zugleich aber bereits deutlich wahrnehmbar umschloss. Und sie war begierig darauf, endlich die Herausforderung anzunehmen - den vielen verschiedenen Möglichkeiten endlich eine feste Form zu geben.
Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken hatte, schien die Sonne sie dazu verlocken zu wollen, die Verandatüren des kleinen Salons zu öffnen. Bereitwillig stieß Amelia die beiden Flügeltüren auf und schritt hinaus in die Gärten.
Sie schlenderte über die ordentlich gemähten Rasenflächen, wanderte einen von Glyzinien überdachten und dann einen von Sonnenschein geradezu überfluteten Pfad entlang und dachte über das wichtigste all ihrer Vorhaben nach - die Planung ihrer unmittelbaren Zukunft.
Was den körperlichen Aspekt ihrer Beziehung zu Luc anging, so brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Dieser Teil ihrer Ehe entwickelte sich von ganz allein. Das Einzige, was Amelia also noch zu tun brauchte, war, sich Luc mit Haut und Haar hinzugeben - eine Aufgabe, der sie nur allzu gerne nachkam, besonders nach der vergangenen Nacht. Und dem heutigen Morgen.
Sie grinste. Am Ende des kleinen Spazierpfades angelangt, bog sie auf den davon abzweigenden Weg ein. Langsam wanderte sie immer weiter. Amelia hätte nie gedacht, noch einmal eine solche Zuversicht aus der Tatsache schöpfen zu können, dass sie Luc in ihrem gemeinsamen Bett befriedigte, dass seine Leidenschaft für sie echt war und nicht nur vorgetäuscht. Und sollte seine sinnliche Begierde nach ihr tatsächlich noch eine andere Qualität angenommen haben, seit sie das Feuer das erste Mal entfacht hatten, so war dieses Verlangen eher noch gewachsen, statt weniger geworden. Amelia fühlte sich regelrecht angespornt durch dieses befriedigende Bewusstsein.
Ein weiterer, unerwarteter Erfolg war Lucs Bereitwilligkeit gewesen, ihre Unterstützung bei der Planung des nächsten Herbstfestes zu akzeptieren und ihr bei der Umsetzung seiner Idee bezüglich der Gutsschulen freie Hand zu lassen. Womöglich sah er in seiner Ehefrau zwar zunächst einfach nur eine kompetente Unterstützung, deren Hilfe er - angesichts der Lasten, die er bereits auf seinen Schultern zu tragen hatte - glücklicherweise auch ohne Vorbehalte annahm. Doch nichtsdestotrotz war dies immerhin schon einmal ein Anfang. Es war ein Schritt in Richtung jenes Teilens, das letztendlich den zentralen Punkt in einer echten Ehe
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