Küsse im Morgenlicht
Luc und Lucifer blieben am Tisch sitzen, neben sich jeweils eine Tasse dampfenden Kaffees, und diskutierten eifrig weiter.
Im Übrigen war Amelias Idee, sich einmal Annes und Emilys Kleider anzusehen, nicht bloß ein Vorwand gewesen, um deren Schränke kontrollieren zu können. Schließlich war es ja gerade die Garderobe der Mädchen gewesen, die sie als Erstes auf die offenbar bedrückende finanzielle Lage der Ashfords aufmerksam gemacht hatte. Ihr war aufgefallen, dass die Stoffe abgenutzt waren, und dass jedes der Kleider mindestens schon einmal aufgetrennt und nach einem modischeren Schnitt neu zusammengesetzt worden war. Und obgleich diese ganzen Sparmaßnahmen natürlich sehr geschickt umgesetzt worden waren, so stand Amelia doch in so engem Kontakt mit der Familie, dass es ihr einfach irgendwann aufgefallen war und sie die Wahrheit erahnt hatte.
Nun allerdings gab es nichts mehr, das noch dagegensprach, den Mädchen endlich neue Kleider schneidern zu lassen und ihre Garderobe damit dem gesellschaftlichen Stand der Familie anzupassen. Emily, Anne, Portia und Penelope selbst ahnten zwar nichts von der Korrektur, die in ihrem Erscheinungsbild dringend notwendig war, doch Amelia hatte längst bemerkt, welcher Missklang zwischen deren Geburtsstatus und ihrem bescheidenen Auftreten lag.
Als Erstes betraten sie Emilys Zimmer, die dann auch sofort die Türen ihres Kleiderschranks weit aufriss. Amelia ließ sich in den Armlehnensessel neben dem Fenster sinken, Anne setzte sich aufs Bett, und dann beratschlagten sie sich mit viel Gelächter über Emilys Garderobe.
Vierzig erschöpfende Minuten später hatten sie sowohl den Inhalt des Kleiderschranks als auch den der Frisierkommode gewissenhaft durchkämmt. Schließlich war Amelia sogar so weit gegangen, auch noch sämtliche Schuhe, Accessoires und Weißwäsche einer kritischen Musterung zu unterziehen, hatte in jede Schublade, in jede Hutschachtel geschaut und sämtlichen Inhalt nach Tragbarkeit neu sortiert.
Dann ging sie kurz die Notizen in ihrem kleinen Büchlein durch, die sie während der Anproben hastig niedergekritzelt hatte, und nickte. »So weit, so gut. Der nächste Schritt ist, dass wir einige Besorgungen machen müssen. Alles, was hier auf der Liste steht, muss möglichst schnell herangeschafft werden. Und jetzt...« Damit deutete sie mit knapper Geste in Richtung des Korridors.
Mehr brauchte Amelia nicht zu sagen, denn schon zogen die drei geschlossen weiter in Annes Zimmer.
Dort wiederholten sie das Prozedere. Diesmal allerdings saß Emily auf dem Bett, und Anne stand neben ihrem Kleiderschrank. Amelia beobachtete ihre zweitälteste Schwägerin genau, während diese nach und nach ihre gesamten Kleider, Schals und Jacken heraushängte. Nicht ein Hauch von Unsicherheit, nicht die leiseste Spur von schuldbewusster Angst huschten über Annes hübsches Gesicht. Lediglich eine Art schüchterner Freude zeigte sich auf ihren Zügen - die Freude darüber, Teil eines solch spannenden Unterfangens zu sein.
Wieder wurde gewissenhaft der Inhalt aller Schubladen, Hutschachteln und Kistchen durchforstet. Das Einzige jedoch, was Amelia an wirklich dringenden Erneuerungen in Annes Garderobe auffiel, waren ein Paar neuer Abendhandschuhe, ein neuer kirschroter Schal und zusätzliche Seidenstrümpfe.
Angewidert hob Anne den alten Schal hoch und musterte ihn mit mürrischer Miene. »Ich weiß beim besten Willen nicht, warum... Sicher, der ist schon alt, aber ich kann trotzdem nicht verstehen, weshalb der Stoff sich hier stellenweise regelrecht aufzulösen scheint.«
Amelia zuckte mit den Achseln. »Das passiert bei Seide eben manchmal. Die zersetzt sich einfach.« Wenngleich der Schal, wenn Amelia ehrlich war, eher so aussah, als ob er schlichtweg abgenutzt und aufgetragen wäre. »Aber mach dir darüber keine Gedanken. Wir kaufen dir schon bald einen neuen.«
Emily richtete sich auf. »Aber bis es so weit ist, wirst du dein rotes Retikül ja wohl erst einmal nicht mehr tragen. Du weißt schon, ich meine dieses kleine Täschchen, das so gut zu dem Schal gepasst hat. Darf ich es mir ausleihen? Es hat genau den gleichen Ton wie mein Reisekostüm.«
»Aber natürlich.« Anne schaute auf und ließ ihren Blick suchend über das Regalbrett oberhalb der Kleiderstange schweifen. »Es müsste irgendwo da oben sein.«
Amelia überflog unterdessen noch einmal flüchtig ihre Notizen. Emily und Anne tauschten ihre Kleidungsstücke und Accessoires sehr freigebig miteinander aus
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